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30 Jahre danach. Was ist von der DDR übrig geblieben? Ein Bericht zur Veranstaltung im Theaterkahn von Frank Richter und ein Extra-Interview mit Markus Meckel

Foto: Bernd Mönch

„Nicht die DDR ist untergegangen, die kommunistische Diktatur ist untergegangen.“

Es war ein Statement, das aufgrund seiner Knappheit und Deutlichkeit in Erinnerung bleibt: „Nicht die DDR ist untergegangen, die kommunistische Diktatur ist untergegangen.“ Ausgesprochen hat es Markus Meckel, letzter Außenminister der DDR. 

Am Sonntag, den 18. Oktober 2020 traf er sich zur Sonntagsmatinee auf dem Dresdner Theaterkahn mit Christian Dertinger, dem zweiten Sohn von Georg Dertinger. Dieser, 1968 verstorben, war der erste Außenminister der DDR. In dieser Funktion verhandelte er die Oder-Neiße-Grenze mit Polen, unterzeichnete das Görlitzer Abkommen und verfasste die so genannte „Stalin-Note“. Darin wurde dem Westen ein geeintes und neutrales Deutschland offeriert. Adenauer lehnte ab. Weil Georg Dertinger an der Idee der deutschen Einheit festhielt und in den politischen Positionierungen der Ost-CDU, die er mitbegründet hatte, nicht davor zurückschreckte, auch aus päpstlichen Dokumenten zu zitieren, ließen ihn die Sowjets fallen. Das Ministerium für Staatsicherheit veranstaltete einen Geheimprozess. Seine Frau, er und weitere Mitstreiter wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Der Außenminister der DDR verschwand für über 10 Jahre in der Sonderhaftanstalt Bautzen II. Seinem Sohn wurde die Identität entzogen… 

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die einzigartigen Lebensgeschichten der Dertingers nachzuerzählen. Hervorzuheben ist ein akustisches Dokument, das in kurzen Passagen eingespielt wurde. Georg Dertinger hatte sich im Spätsommer 1967 dazu entschlossen – er wusste zu diesem Zeitpunkt um seine schwere Krebserkrankung –, das Resümee seines Lebens im Sinne eines politischen Testaments auf Tonband zu sprechen. Dieses ist erhalten und wurde digitalisiert. Es handelt sich um fast zwei Stunden frei und druckreif vorgetragene Erinnerungen, Bewertungen und politische Visionen. Georg Dertinger fühlt sich als ein Gescheiterter, nicht als ein Gebrochener. 

Sinngemäß formulierte er: Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben. Auch der politische Erfolg braucht die richtigen Umstände. Was Georg Dertinger in schwierigen Zeiten, Anfang der 50er Jahre vergeblich versucht hatte, gelang knapp vierzig Jahre später in günstigeren Zeiten.  

Zurück zu Markus Meckel. Was der letzte Außenminister der DDR vom letzten Jahr der DDR zu berichten wusste, war gewiss weniger tragisch, gleichwohl nicht weniger spannend. Immer wieder empörte er sich über die Ignoranz und die Arroganz, mit der heute über die politische Rolle, die Schwierigkeiten und den rechtlichen Status der letzten, frei gewählten Regierung der DDR hinweg gegangen und hinweg geschwiegen wird. 

Ich zitiere sinngemäß: Es war nicht die Eile, mit der sich die politischen Veränderungen im Frühjahr und im Sommers 1990 vollzogen, die uns daran hinderte, die berechtigten Interessen der demokratisch gewordenen DDR zu vertreten. Es waren die Machtverhältnisse. Für den Westen ging es darum, den Osten passgenau herzurichten. Auch wenn viel mehr Zeit gewesen wäre, wir hätten nicht mehr Chancen gehabt. Und die Bevölkerung in der DDR? Auch sie stand einer stärkeren Verhandlungsposition im Wege. Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik so schnell wie möglich, hieß Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes so schnell wie möglich, hieß Preisgabe von Interessen der DDR, ihrer demokratisch gewählten Regierung und letztlich ihrer Bevölkerung so schnell wie möglich.

Was Christian Dertinger (für sich und in der Erinnerung an seinen Vater) und Markus Meckel am Vormittag im Theaterkahn erkennbar verband, war die dankbare Erinnerung, in einer wichtigen Phase der Geschichte auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Beide traten für etwas ein, was sie als richtig, wahr und gut erkannt hatten. Sie taten es aus Überzeugung, nicht wissend, ob ihr Vorhaben von Erfolg gekrönt sein würde.                            

Am Ende eine persönliche Bemerkung: Ich konnte nicht allen Bewertungen und politischen Positionierungen von Markus Meckel zustimmen. Sein Urteil über den „real existierenden Kapitalismus“ fiel für meinen Begriff viel zu gnädig aus. Was ich ihm unbedingt abnahm, war sein ehrlicher und tief empfundener Respekt vor der Lebensleistung Georg Dertingers. Vielleicht ist es am 18. Oktober 2020 gelungen, einen gedanklichen Bogen zu schlagen vom Leben und Werk des ersten zum Leben und Werk des letzten Außenministers der DDR. 

Was ist von der DDR übriggeblieben? 

Auf jeden Fall eines: das Vorbild glaubwürdiger und ehrlicher Demokraten. 

ein Bericht von Frank Richter, MdL, Kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag 

Danach führte Frank Richter das folgendes Interview mit Markus Meckel.

Richter: Die Veranstaltung auf dem Theaterkahn Dresden am 18. Oktober trug den Titel: „30 Jahre danach. Was ist von der DDR übrig geblieben?“ Meine Frage an Dich: Ist etwas übrig geblieben, und wenn ja, was?

Meckel: Die DDR ist die eine Seite der geteilten Nachkriegsgeschichte Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der keiner dieser beiden Staaten wirklich verstanden werden kann ohne den Bezug auf den anderen! Die DDR ist Teil der Lebenswirklichkeit jedes Menschen, der sie erlebt hat – und das bleibt, so lange man lebt. So lange ich also lebe, ist sie in mir lebendige Wirklichkeit und Erfahrung, gehört zu meinem Leben. Das gilt auch (und vielleicht gerade auch) dann, wenn ich mich kritisch mit ihr auseinander gesetzt habe.

Richter: Politiker unterschiedlicher Couleur bezeichnen die DDR als „Unrechtsstaat“, vielleicht meinen sie, damit sei damit alles oder zumindest das Wesentliche gesagt. Wie ordnest Du diesen Begriff ein? 

Meckel: Klarer ist, wenn man von einer Diktatur spricht. Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist nicht wirklich klar, da er das Missverständnis birgt, alles in der DDR wäre Unrecht gewesen. Dann aber dürfte nicht einmal eine Ehe, die in der DDR geschlossen wurde, gültig sein. Wenn man „Unrechtsstaat“ so definiert, dass der Staat in jeden Rechtsakt in seinem Interesse eingreifen kann und dies auch praktiziert, sobald er es will, dann waren sowohl der NS-Staat wie die DDR Unrechtsstaaten – denn beide haben dies praktiziert.

Richter: Hat die Existenz der DDR historisch und aus heutiger Perspektive gesehen, einen Sinn gehabt oder zumindest eine Funktion erfüllt? 

Meckel: Ich habe Schwierigkeiten, geschichtlichen Entwicklungen einen „Sinn“ zu geben. Die Teilung war Folge des verbrecherischen Krieges, den Hitlerdeutschland geführt hat. Die Sowjetunion hat „ihrem“ Teil Deutschlands und Europas das eigene System auferlegt – was relativ bald absehbar war. Sinn? Ich weiß nicht..!

Richter: Das letzte Jahr der DDR war ihr bestes. Welches war für Dich das Ereignis in diesem letzten Jahr – ich meine die Zeit vom Oktober 1989 bis zum Oktober 1990 – an das Du Dich am liebsten erinnerst? An welches möchtest Du lieber nicht erinnert werden? 

Meckel: Ja, die DDR ging nicht unter, sondern die kommunistische Diktatur. Sie wurde in einer Friedlichen Revolution hinweggefegt, Ergebnis des friedlichen Übergangs am Runden Tisch war die freie Wahl. So wurde die DDR zu einer Demokratie. In freier Selbstbestimmung wollte die große Mehrheit der DDR-Bürger die deutsche Einheit. Diesem Ziel war die erste frei gewählte DDR-Regierung verpflichtet. Sie verhandelte die deutsche Einheit mit der Bundesregierung und den Alliierten – die entsprechenden Verträge regelten die konkreten Fragen. Das Ergebnis war die deutsche Einheit, beschlossen von der frei gewählten Volkskammer als Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes. Insofern gilt: die DDR-Bürger sind aufrecht und selbstbestimmt in die Deutsche Einheit gegangen!
Gleichzeitig jedoch gilt: in diesen Verhandlungen zur deutschen Einheit hat die Bundesregierung ihre Dominanz z.T. gnadenlos ausgenutzt und es am nötigen Respekt, an der angemessenen Empathie fehlen lassen. Das spürten viele DDR-Bürger – es hatte langfristige mentale Folgen.

Richter: Der Begriff des Sozialismus scheint, gerade auch im Osten Deutschlands, seit dem Untergang der DDR vollständig und für immer diskreditiert. Die SPD hält in ihrem Grundsatzprogramm am demokratischen Sozialismus fest. Warum? Und wie lässt sich das vermitteln? 

Meckel: Der Sozialismus-Begriff ist durch die Erfahrung mit der DDR (und dem ganzen kommunistischen Ostblock) völlig diskreditiert und als politischer Orientierungsbegriff für eine „gerechtere Gesellschaft“ unbrauchbar. Als politischer programmatischer Begriff hat er ausgedient, denn jeder Bürger, der DDR-Erfahrung gemacht hat, verbindet ihn mit dieser. Deshalb müsste die SPD ihn aus ihrem Programm streichen! Dass dies nicht geschehen ist, hat wesentlich mit der westgeprägten „linken“ Ignoranz zu tun, die Erfahrungen im Osten nicht ernst zu nehmen. (Natürlich hatte der Sozialismusbegriff ursprünglich die Bedeutung der Orientierung auf eine gerechte Gesellschaft – doch das kann nur noch Thema in einem historischen und vielleicht auch philosophischen Seminar sein!)