zur Übersicht

Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche, am 22. Mai 2023, am Vorabend des 160. Jubiläums der SPD – Ansprache Frank Richter

Nikolaikirche zu Leipzig Foto: Frank Berger

„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden“.

Matthäus-Evangelium, 5. Kapitel, Vers 6

„Zuerst formen die Menschen die Gebäude. Danach formen die Gebäude die Menschen.“ 

Es gibt kaum eine Kirche in Sachsen, in der ich den Wahrheitsgehalt dieses Spruches deutlicher repräsentiert sehe als die Leipziger Nikolaikirche. 

Die Architektur ist das Eine. Gleich, ob sie der persönlichen Spiritualität entspricht oder nicht, sie überzeugt. Sie führt unsere Augen, aber sie zwingt sie nicht. Sie gibt den menschlichen Akteuren Raum, aber sie macht deutlich, dass die Akteure weder allein noch für sich allein genommen die wichtigsten sind, dass ein Raum dahinter und ein Raum darüber existiert. Die Gestaltung durchlichtet ihn. Wenn wir eintreten, vermittelt sie uns: Das Draußen hat nicht nur dort, sondern auch hier drinnen Bedeutung. Und wenn wir hinaustreten, sagt sie uns: Nimm das Drinnen mit. Trag es nach Draußen. 

Ich erlebe diese Kirche als Symbol christlicher Aufklärung. „Aufklärung“ im passivischen und im aktivischen Sinn des Wortes. Es ist ohnehin ein elementares Missverständnis, dass Aufklärung und christlicher Glaube nicht zusammenpassen oder nicht zusammengehören würden. Das Gegenteil ist der Fall. 

Der Standort ist das Zweite. Dieses Gebäude steht mitten in der Stadt. Es war und ist „offen für alle“, Das weiß man aus den Tagen, Wochen und Monaten der friedlichen Revolution in der DDR und man kann es bis heute am Eingangsportal lesen. 

„Mitten in der Stadt“ und „offen für alle“, – das heißt, mit anderen Worten: „politisch“. Was an und in dieser Kirche geschieht, ist öffentlich und von allgemeiner Bedeutung. 

„Eine mit Palmwedeln gekrönte Säule aus dem Kirchenschiff ist auf dem Platz davor, auf dem Nikolaikirchhof nachgebildet. Das Projekt trägt den Gedanken des Aufbruchs aus der Kirche hinaus.“ (so der Eintrag auf der Homepage der Stadt Leipzig) 

Die Erinnerungen, Bilder und Erzählungen, die sich mit diesem Ort verbinden, sind das Dritte. Der Ort Nikolaikirche ist aufgeladen mit Gedanken und Gefühlen, denen man sich nicht entziehen kann, wenn man die Geschichte kennt. Diese Gedanken und Gefühle tragen in sich die Kraft der Veränderung. Wenn wir uns darauf einlassen und uns öffnen, dann vielleicht sogar die Kraft der Verwandlung und der Wendung. Die Nikolaikirche ist kein Museum. 

Sie ist ein religiöser, sozialer und politischer Hotspot. 

Soweit zum Ort, an dem wir uns versammelt haben. Aber auch der Zeitpunkt, an dem wir uns versammeln, ist bedeutsam.

Der 23. Mai – wir sind beieinander am Vorabend – schafft Verbindlichkeiten. Im Unterschied zu den allermeisten anderen Lebewesen sind wir Menschen in der Lage, Räume und Zeiten gedanklich zu versammeln, den eigenen Ort zu bestimmen, seine Bedeutung wahrzunehmen und Verantwortung für das Ganze zu übernehmen. Wenigstens soweit unsere Kräfte reichen. 

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands begeht morgen ihr 160. Gründungsjubiläum. Genauer muss man sagen:  Vor 160 Jahren wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet, der später aufging in der SPD, der ältesten politischen Partei Deutschlands. 

Natürlich hat diese Partei im Westen Deutschlands ungleich mehr Mitglieder als im Osten. 

Auch deshalb mag es als ein glücklicher Umstand erscheinen, dass in diesem Jahr auch die Paulskirche in Frankfurt am Main, über die ganz Ähnliches gesagt werden kann wie über die Nikolaikirche in Leipzig, im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Vor 175 Jahren, am 18. Mai 1848, hat sich dort das erste gesamtdeutsche Parlament versammelt. 

Am 23. Mai 1949, also morgen vor 74 Jahren, wurde in Bonn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet, zu dessen Geltungsgebiet die DDR 1990 beitrat und das bis heute die Verfassung unseres demokratischen Gemeinwesens ist.

Aber was verbindet diese Orte, Tage und Jubiläen in ihrer inhaltlichen Substanz? Diese Frage drängt sich auf. Es ist unmöglich und wirkt auch ein wenig vermessen, in der Kürze der hier gegebenen Zeit eine Antwort zu geben, die mehr ist als die Aufzählung von Überschriften. Sie kennen diese Überschriften: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Kampf um Anerkennung und Selbstbestimmung, Frieden und andere. Diese Werte geben unserem Leben und Zusammenleben Orientierung. Wir sind nicht in der Lage, sie vollständig zu realisieren. 

Dennoch dürfen wie niemals aufgeben, sie anzustreben. Den einen Wert gegenüber einem anderen Wert hervorzuheben oder gar zu bevorzugen, bringt das ganze Gefüge ins Wanken. 

Wenn ich mir hier gestatte, einen herauszugreifen, dann geschieht das in Rücksicht auf das Jubiläum der Sozialdemokratie. 

Ohne ein in der Wolle gefärbter Genosse zu sein, habe ich die nunmehr 160 Jahre währende Geschichte dieser Partei vor allem gelesen und verstanden als ein Ringen und Kämpfen um Gerechtigkeit, manche sagen: um soziale Gerechtigkeit. Ich weiß gar nicht so recht, ob es des Attributes „soziale“ bedarf. Gerechtigkeit ist nicht teilbar. Entweder geht es gerecht zu oder nicht. Entweder streben wir Gerechtigkeit an oder wir tun es nicht.

Ich erlebe unsere Gesellschaft und auch das staatliche Handeln als in vielfacher Hinsicht zutiefst ungerecht. Das deutsche Bildungssystem trägt nachweislich nicht dazu bei, dass die verschiedenen Voraussetzungen, mit denen Kinder in die Schule kommen, ausgeglichen werden. Manche sagen: das Gegenteil ist der Fall. Im Schulsystem wirkt die alte Ständeordnung weiter. Die höchst unterschiedlichen Lebenschancen der Klassen und Schichten werden fortgeschrieben. 

Jedes Jahr am Welterschöpfungstag wird uns vor Augen gehalten, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Umweltschützer haben berechnet, dass Deutschland bereits Anfang Mai seine ökologischen Ressourcen für das Jahr 2023 aufgebraucht hat. 

Und was heißt hier „Deutschland“? Die Reichen dieses Landes verbrauchen und verbrennen pro Kopf ungleich mehr als die Armen dieses Landes. Unsere Art zu produzieren und zu konsumieren geht auf Kosten der nachfolgenden Generationen gleichermaßen wie auf Kosten der Menschen im globalen Süden. 

Das Gerechtigkeitsgefühl wird für viele durch nichts mehr bestimmt wie durch die Erfahrungen in Betrieben, Büros und Institutionen. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Sachsen ist nach wie vor ein Bundesland mit besonders niedriger Tarifbindung. Intransparente, willkürliche und ungerechte Arbeitsvertragsverhältnisse sind Alltagsrealität. Man kann das auch Ausbeutung nennen, Ausbeutung, gegen die man sich wehren muss, gegen die sich allerdings viele auch deshalb nicht wehren, weil sie sich zur Selbstausbeutung aufgrund mangelnder Solidarisierung gezwungen sehen oder sich der neoliberalistische Ungeist in die Köpfe eingefressen hat. Die Liste der Stichworte – Bildungsungerechtigkeit, Generationen- und Klimaungerechtigkeit und Ausbeutung – könnte fort- und ausgeführt werden. Das muss an anderer Stelle erfolgen. 

In den Seligpreisungen aus dem Matthäusevangelium hörten wir: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden“.

Oft höre ich aus dem Mund von Mandats- und Verantwortungsträgern die brüsk vorgetragene Feststellung: „Man kann mit den Seligpreisungen keine Politik machen.“ Die solches behaupten, sind sich sehr sicher. Sie verweisen darauf, dass Politik letztlich, prinzipiell und immer – auch in der Demokratie – der Kampf um die Macht sei und dieser nicht mit Moral gewonnen werden könne. Abgesehen davon, dass es bei den Seligpreisungen nicht oder jedenfalls nicht vordergründig um Moral gehrt, sondern um Zuspruch, um Trost und um Verheißung, und abgesehen davon, dass man dieser Behauptung in Erinnerung an die friedliche Revolution in der DDR einiges entgegensetzen kann, meine ich, dass man anders fragen sollte. „Sollte man ohne die Seligpreisungen Politik machen?“ 

Meine Antwort lautet: Nein. 

Wir dürfen niemals aufhören, nach Gerechtigkeit zu hungern und zu dürsten, und dies nicht nur im persönlichen Umfeld, sondern auch in der Gesellschaft, auch in der politischen Auseinandersetzung. Die drei Jubiläen, die in diesen Tagen zusammenfallen, lehren uns dies. 

Schriftfassung. Es gilt das gesprochene Wort.

Hier gehts zum Artikel in der Süddeutschen Zeitung „160 Jahre SPD: Eine Volkspartei sucht das Volk“

Hier gehts zu einem Beitrag auf mdr-aktuell – Warum die SPD in ihrem Gründungsland schwächelt