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Lärm macht krank. Ignoranz macht zornig.

Spielt am Sachsenring ein Stück der Täuschungen und Enttäuschungen?

Lärm macht krank, so sagt der Volksmund. Es ist eine lapidare Feststellung, die man auch härter ausdrücken kann: Lärm führt zu Stress. Stress führt zu Zelltod. Zelltod beschleunigt das Ende des Lebens. Viele Anfragen und Proteste, die mich erreichen, haben mit Beschallung, mit Geräuschbelästigung, mit rücksichtslosem Verhalten im Straßenverkehr und mit Lärm zu tun. Ältere Mitbürger, die über eine lange Lebenserfahrung verfügen, sprechen von einer ständig zunehmenden „aggressiven Alltagsakustik“. 

Auch wenn man es überall im Lande konstatiert, in Hohenstein-Ernstthal, in der Nähe des Sachsenrings, scheint sich diese Erfahrung zu potenzieren. Bei einem Vor-Ort-Termin des Petitionsausschusses konnte ich mir ein eigenes Bild, nein, ich sollte besser sagen: einen vorübergehenden Höreindruck verschaffen. Seither ahne ich, was die Anwohner auszuhalten haben. Was die Lärmbelästigung im Alltag bedeutet, können sie authentisch nur selber berichten. Wenn man sie auf ihre Beziehung zu den politischen Entscheidungsträgern anspricht, so sprechen einige unverblümt von einer langen Geschichte der Enttäuschungen, manche von einer Geschichte der Täuschungen. Am Anfang, also wenige Jahre nach der Wende, sei von einem „Verkehrssicherheitszentrum“ (VSZ) die Rede gewesen, auf dem an einer kleinen Zahl von Tagen im Jahr Autorennen stattfinden würden. Inzwischen aber habe sich der Sachsenring zu einer Dauerrennstrecke entwickelt. In den warmen Monaten, in denen sich jeder gern im Freien aufhält, sei die Lärmbelästigung am größten. Die Anwohner fordern Abhilfe. Sie verlangen politisches Eingreifen. Die Dinge einfach laufen zu lassen, halten sie für zynisch. 

Nun, so sehr man ihrer Forderung zustimmen möchte, so schwer ist die Frage zu beantworten, was tatsächlich geschehen könnte. Die Situation am Sachsenring ist vertrackt. 

Auf der einen Seite stehen:

1. die Tatsache, dass sich der Betreiber des VSZ auf eine behördliche Genehmigung berufen kann. Die Erlaubnis, die Anlage zu betreiben, geht auf Entscheidungen zurück, die vor vielen Jahren von mehrheitlich gewählten Politikern getroffen wurden; 

2. Messungen, die – so sagen es die Vertreter der für die Überprüfung zuständigen Landesdirektion –, in der Regel den Rahmen des rechtlich erlaubten Lärmpegels nicht überschreiten und

3. viele Einwohner in Hohenstein-Ernstthal, die den Sachsenring schlicht toll finden, entweder weil sie Fans des Motorsports sind, ihn der Tradition ihrer Stadt zurechnen oder von den Aktivitäten auf der Strecke und den Veranstaltungen profitieren. 

Auf der anderen Seite stehen:

1. der Leidensdruck der Anwohner im unmittelbaren Umfeld, aber auch vieler in der Stadt, die ebenfalls belästigt werden, obwohl sie mehrere hundert Meter entfernt wohnen;

2. die begründeten Zweifel, ob die für die Lärmmessung geltenden Parameter geeignet sind, die tatsächliche Belastung angemessen darzustellen und

3. die Kritik daran, dass bestimmte Faktoren – wie zum Beispiel die für das menschliche Ohr nicht hörbaren Frequenzen oder die aus dem gemittelten Pegel heraus stechenden Knall-, Knatter- oder Quietschgeräusche – für die Bewertung keine relevante Rolle spielen, obwohl gerade sie als besonders belastend empfunden werden. 

Und folglich kommt zu den genannten Problemen ein weiteres hinzu: das Problem der seit Jahren unbeantworteten Fragen: Welche Seite hat Recht? Welche bekommt Recht? Was hat Vorrang? Der Spaß am Motorsport, am Geschwindigkeitsrausch und an heulenden Motoren? Oder die für den Alltag der Anwohner notwendige Ruhe, die Möglichkeit, vors eigene Haus zu treten, die Natur zu genießen, Gäste im Garten empfangen zu können? 

Für die einen bedeutet der Sachsenring Arbeit, Lohn und Vergnügen. Für die anderen bedeutet er eine nicht enden wollende Bedrückung, die an den Nerven zehrt und krank macht. 

Manche Zeitgenossen sind der Überzeugung, wir seien eine Spaßgesellschaft und lebten in einer Welt, in welcher der ökonomische Gewinn über allem stünde. Ich finde diesen Gedanken und die ihm innewohnende Logik fatal. Ihr darf man sich nicht beugen. 

Manche meinen, dass Mehrheiten auf Minderheiten keine Rücksicht zu nehmen hätten und dass die Inhaber eines Rechtes keine Kompromisse zu machen bräuchten. Ich finde auch diesen Gedanken verhängnisvoll. Wenn man ihn zu Ende denkt, landen wir in einer Gesellschaft des „Jeder für sich und alle gegen alle.“ Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung sagt etwas anderes: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme. Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“ Ich weiß, dass die Straßenverkehrsordnung für den Betrieb des VSZ nur bedingt anwendbar ist. Dennoch schlage ich vor, den Sinn von Paragraf 1 auf die Situation am Sachsenring anzuwenden. 

Wenn es die eine, alle Probleme auf einen Schlag beseitigende Lösung nicht gibt, warum sucht man dann nicht miteinander nach den vielen kleinen Abhilfen und Erleichterungen? Warum sollte es nicht möglich sein, das Verständnis füreinander und die Solidarität miteinander zu organisieren und kontinuierlich auszubauen? Warum gibt es keinen Runden Tisch, an dem sich die verantwortlichen Politiker, der Betreiber der Anlage, die Anwohner, die Nutzer des Sachsenrings, die für die Kontrolle der Lärmmessungen verantwortliche Landesdirektion, interessierte Vertreter der Bürgerschaft usw. regelmäßig zusammensetzen?  Vor 30 Jahren erwies sich der Runde Tisch als ein brauchbares politisches Möbelstück, an dem scheinbar unlösbare Konflikte angegangen wurden. Warum gelingt es nicht, die Zeiten der Entlastung vom Lärm verbindlich zu vereinbaren und zu kontrollieren? Warum kann der Veranstaltungskalender, an dem sich die Anwohner orientieren, nicht verlässlich eingehalten werden? Warum finden Rennen statt und verursachen Lärm bis in die Abendstunden, von denen man nach Kalenderlage erwartet hatte, dass sie ruhig sein würden? Warum diskutiert man nicht, ob die Lärm-Messstationen an den richtigen Stellen stehen und in die richtige Richtung messen? Was hindert daran, die Verbesserung von Lärmschutzmaßnahmen anzugehen, wo es doch Konsens zu sein scheint, dass Erdwälle besser funktionieren als Wände? 

Ein regelmäßig tagender Runder Tisch hätte Fragen genug. Sie öffentlich zu machen, kontrovers zu diskutieren und miteinander nach Antworten zu suchen, sollte in einer Demokratie genauso selbstverständlich sein wie das Prinzip der Rechtssicherheit, die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und die Rücksicht auf die legitimen Interessen von Minderheiten. 

Dass sich die landespolitische Ebene nicht aus der Verantwortung stehlen kann, daran erinnerte mich ein betroffener Anwohner. Er zitierte aus dem Koalitionsvertrag, den B90/Die Grünen, die sächsische SPD und die CDU im Dezember 2019 gemeinsam unterzeichnet haben. Darin heißt es: „Die Belastung für Mensch und Umwelt durch Lärm und Schadstoffe sowie den Flächenverbrauch wollen wir spürbar verringern.“ Insofern ist klar: Es kann auch am Sachsenring nicht einfach nichts geschehen. Dass die gesetzlichen Parameter zur Messung von Lärm, ihre Bewertung hinsichtlich der tatsächlichen Belastung, möglicherweise auch die Technik der Messung angepasst und stärker an der Lebenswirklichkeit der betroffenen Menschen ausgerichtet werden, ist wohl nur auf bundespolitischer Ebene zu erreichen. Ein langer Weg! Aber Sachsen kann initiativ werden. Dass die Vertreter des Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie im Vor-Ort-Termin mitteilten, sich dafür einzusetzen, war eine der wenigen guten Nachrichten des Tages. Für den Erfolg notwendig sei allerdings ein gründliches politisches Umdenken. 

Frank Richter, MdL    

Mitglied der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag