zur Übersicht

Lehren aus der Krise ziehen: für eine neue Kultur der Verbundenheit

Foto: Daniel Bahrmann

Die als Pandemie eingestufte Ausbreitung des Corona-Virus, der zahlenmäßige Anstieg der Infektions- und Atemwegserkrankungen sowie die radikalen Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen führen die Gesellschaft in eine seit Menschengedenken nicht vorgekommene Krise. Ältere Menschen erinnern sich an den Krieg und an die Nachkriegszeit. Der jüngeren und mittleren Generation fehlen Erfahrungs- und Erinnerungsmuster. 

Zu der alle erfassenden Sorge um die eigene Gesundheit kommt die Sorge um das Wohlergehen und um das Leben der nahen und fernen Angehörigen. Weil die ökonomische Basis der Gesellschaft angegriffen ist, müssen sich viele Menschen vor dem Wegbrechen ihrer Lebensgrundlage fürchten. Die durch staatliche Anordnungen verursachten Kontaktsperren führen zur Vereinsamung vieler oder verschärfen diese. Zugleich arbeiten die im Gesundheitswesen, in Arztpraxen, Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen tätigen Menschen am physischen und psychischen Leistungslimit. 

Keiner kann seriös sagen, wie sich die Lage in den kommenden Wochen entwickeln wird. Es fällt schwer, ihr Positives abzugewinnen. Dies könnte als schwarze Pädagogik oder als Zynismus missverstanden werden. Gleichwohl ist es wichtig, die Krise sachlich in den Blick zu nehmen, sie auf der Grundlage unserer Werte zu reflektieren, im Diskurs Erkenntnisse abzuleiten und Chancen zu erkennen. 

Ich rege an,

1. dass wir uns der politischen Ordnung der Bundesrepublik und ihrer gesellschaftlichen und demokratischen Grundlagen vergewissern.  Der Staat erweist sich als stark und handlungsfähig. Er ist demokratisch legitimiert und informiert die Bürger offen und ehrlich; auch deshalb genießt er bei der großen Mehrheit Vertrauen. Alle, die ihn schlecht geredet oder politisch geschwächt haben, werden Lügen gestraft. In kürzester Zeit wurden Unterstützungsprogramme und Notfonds aufgelegt und mit gigantischen finanziellen Mitteln ausgestattet. Wenn diese nicht ausreichen und die Hilfsbedürftigen nicht zielgenau erreichen, können sie nachgebessert werden. Dieser Hinweis schließt Kritik nicht aus. Das im internationalen Vergleich gut ausgestattete Gesundheitswesen war nicht in jeder Hinsicht gut vorbereitet, der personelle Notstand in der häuslichen und stationären Pflege erweist sich in der Krise als schwere Hypothek.  

2. dass wir all jene Institutionen stärken, die der Gesellschaft geistige, kulturelle und moralische Orientierung geben. Dazu gehören unter anderem Theater, Museen, Konzerthäuser, Galerien, caritative und soziokulturelle Einrichtungen. In einer Gesellschaft, in der alles machbar und beherrschbar scheint, braucht es Orte, an denen über die Begrenztheit, das Schicksal und die Endlichkeit menschlicher Existenz gesprochen werden kann. Eine durchökonomisierte Gesellschaft, in der sich alle zwischenmenschlichen Beziehungen rechnen müssen, ist sinnlos und fällt auseinander. Wir können dankbar sein, dass sich die kulturellen Bindekräfte aktuell als stark erweisen. Auch ein gut funktionierender Staat ist nicht allmächtig. Er kann Mitmenschlichkeit und sinnvolles Leben weder ersetzen noch erzwingen. 

3. dass wir dem informellen Lernen größere Wertschätzung schenken. Wenn derzeit viele Schülerinnen und Schüler unterrichtsfreie Zeit haben, heißt das bei Weitem nicht, dass sie nichts lernen. Im Gegenteil. Das Lernen, das institutionalisiert und zielgerichtet erfolgt, ist keineswegs die einzige Form des Lernens. Oftmals ist es nicht einmal besonders nachhaltig. Erkenntnis ist reflektierte Erfahrung. Wenn sich Eltern, Großeltern, Kinder, Enkel und Jugendliche mit ihren Lehrerinnen, Lehrern, Erziehern und Nachbarn offen und ehrlich über ihre Erfahrungen in der aktuellen Krise austauschen, diese reflektieren und einordnen, macht unsere ganze Gesellschaft einen großen Lernfortschritt. So wichtig Lehrpläne, Stundentafeln, Schulstunden und Zensuren auch sein mögen; Lernen ist auf sie nicht angewiesen. Lernen ist ein Selbstaneignungsvorgang. In Situationen, in denen die gewohnten Rollenmuster und die etablierten Autoritäten an Bedeutung einbüßen, sind alle gezwungen, sich selbständig zu orientieren und sich mit anderen zu organisieren. Lernen kann in solchen Situationen besonders effektiv sein.Wir brauchen eine gründliche Debatte über die inhaltliche und methodische Ausrichtung unserer Bildungseinrichtungen. 

4. dass wir den Qualitätsjournalismus und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erhalten und verteidigen. Die Gesellschaft ist in der aktuellen Krise mehr als sonst darauf angewiesen, dass es allgemein zugängliche Informations- und Kommunikationsplattformen gibt, deren Macher der Sachlichkeit, der Ausgewogenheit und dem journalistischen Ethos verpflichtet sind. 

Die Deutschen in Ost und West machen im 30. Jahr nach der Wiedervereinigung eine gemeinsame Erfahrung. Diese verbindet sie mehr als alle Sonntagsreden. Diese Erfahrung geht vielen an die Existenz. Sie macht an Ländergrenzen nicht halt. Sie erfasst die Gesellschaften in ganz Europa und darüber hinaus. Sie fordert unsere Menschlichkeit heraus.

Frank Richter, MdL 

Kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion 

27.3.2020

Lehren aus der Krise ziehen: für eine neue Kultur der Verbundenheit