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Nachruf auf Justin Sonder

Foto: screenshot WDR Reportage „Den Holocaust überlebt“

Die Erinnerung wach halten

Zweimal konnte ich Justin Sonder in seiner kleinen Chemnitzer Wohnung besuchen. Die Begegnungen mit ihm, dem alten, kleinen und hellwachen Mann, gehörten zu den intensivsten meines Lebens. In den wenigen Stunden, in denen ich seine Gegenwart erfahren durfte, prägte sich mir seine Persönlichkeit tief ein.

Justin Sonder erzählte mir von seinen Erlebnissen im Konzentrations- und Vernichtungslager Ausschwitz, vom Überleben des Todesmarsches am Ende des Krieges und von seinen Idealen beim Aufbau einer neuen, antifaschistischen, friedlichen und sozialistischen Gesellschaft in der DDR.

Er, der säkulare Jude, der in Chemnitz aufgewachsene und zur Nachkriegsentwicklung von Karl-Marx-Stadt stehende Menschenfreund, gehörte zu der Kategorie „Zeitzeugen“, denen es nicht um sich selbst, sondern ganz um eine Botschaft geht. Seine Botschaft lautete: „Nie wieder Krieg! Und: Wehret den Anfängen!“

Zu seinen hervorstechenden Eigenschaften gehörte es, in allen Menschen, von denen er sprach – selbst in den SS-Männern und Nazi-Schergen, von denen er unvorstellbare Gemeinheiten zu berichten hatte -, das Menschliche zu sehen. „Kein Mensch wird als Nazi geboren, keiner muss als Nazi sterben.“ Ich glaube, diese Wahrheit zum ersten Mal aus dem Mund von Justin Sonder gehört zu haben. Obwohl sein Leben und seine Botschaft zum Wertvollsten gehörte, was der nachwachsenden Generation zu vermitteln gewesen wäre, bekam Justin Sonder eine vergleichsweise geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Nun, da er nicht mehr unter uns weilt, spüre ich dies umso schmerzhafter.

Es gilt, die Erinnerung an ihn wach zu halten. Ich weiß nicht, ob es Justin Sonder noch wahrzunehmen vermochte, dass seine Heimatstadt Chemnitz sich jetzt darauf vorbereitet, Europas Kulturhauptstadt 2025 zu werden. Wenn ja, dann hat er sich gewiss darüber gefreut. Die Chemnitzer, die Sachsen, die Deutschen, die Europäer und alle Menschen dürfen sich freuen, dass es ihn gab. Justin Sonder stand in Person dafür, dass die Würde des Menschen tatsächlich unantastbar ist, wenn sich der Mensch seiner Würde bewusst ist.

Frank Richter, 3.11.2020

Justin Sonder geb. 18.10.1925 in Chemnitz; gest. 03.11.2020 ebenda

WDR Reportage „Den Holocaust überlebt“