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Was ist nur mit den Sachsen los?

Foto: Frank Richter, bei der Querdenkerdemo im Spätherbst 2020 in Leipzig

Eine Sammlung statistischen und historischen Materials zum Verständnis der sächsischen Mentalität

(Stand: 15. Januar 2021)

Peter Richter

Spätestens seit dem Beginn der Montagsumzüge der selbsternannten „Patrioten Europas gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (PEGIDA) am 20.10.2014 und deren mächtigsten Aufzug nach dem Öffnen der Grenzen für Flüchtlinge am 12.1.2015 mit ca. 25000 Menschen stellen sich viele etwas ratlos diese Frage. Seitdem sinkt die Zahl der treuen Demonstranten zwar kontinuierlich. Außerhalb Sachsens, ja Dresdens, hat die Bewegung nach anfänglichen Erfolgen, nicht Fuß fassen können. Ausländerfeindlichkeit, identitäre und völkische Orientierung kennzeichnen die Bewegung. Ähnlich dürfte es sich mit den jetzt anwachsenden nächtlichen Demonstrationszügen gegen die „Corona-Diktatur“ verhalten. Damit wird eine Gemeinschaftsbildung verstärkt, die sich zuvor in individuellen Sitzungen in den Echoräumen der social media mit selektiver Information munitioniert hat und sich nun gegenseitig ihren selbsterklärten Widerstand bekräftigt (Vorländer, 2021).

Gibt es denn in der sächsischen Geschichte frühe Hinweise für ein solches Verhalten? Hat sich etwa im kulturellen Gedächtnis ein spezieller Volkscharakter aus der langandauernden Pufferstellung zwischen Preußen im Norden und Böhmen/Habsburg im Süden herausgebildet? In dieser Situation hat Sachsen über Jahrhunderte mit treffsicherem Instinkt auf der Seite der historischen Verlierer gestanden. Dann müsste das besonders für die Oberlausitz gelten, die 1635 als Lehen von Habsburg an Sachsen abgetreten worden ist als Gegenleistung dafür, dass sich das Kurfürstentum Sachsen am Habsburger Krieg gegen die Schweden beteiligt. Oder ist das gegenwärtige Protestverhalten vieler Sachsen gegen staatliche Maßnahmen doch eher aus dem Widerspruch zwischen der ökonomischen Sparpolitik des Landes und den prekären Lebensverhältnissen vieler Bürger zu verstehen und damit als Folge und  ein Nachwirken des Misstrauens gegenüber staatlichen Maßnahmen aus der DDR-Vergangenheit?

Sächsische Austeritätspolitik – geschwächte soziale Kohäsion und wachsende Ungleichheit

Die Austeritätspolitik der vergangenen Jahrzehnte, auf die die Landespolitik besonders stolz ist und mit der vor allem die Exportwirtschaft Sachsens angekurbelt werden sollte, hat zu einer Einschränkung des Binnenmarktes und der sozialen Schwächung breiter Arbeitnehmerkreise und damit zur Schwächung des Demokratiepotentials, insbesondere der betrieblichen Demokratie, geführt. Sachsen liegt mit seiner Exportquote an der Spitze der ostdeutschen Länder, gleichauf mit Hessen und Niedersachsen (Statistisches Bundesamt 2019). Nachfolgend Daten beziehen sich auf 1/2020:

Jeder 4. Beschäftigte in Sachsen bezieht Mindestlohn. In fast einem Drittel der Betriebe wurden in Sachsen vor der Einführung des Mindestlohns 2014 Löhne unter  8.50 € Brutto/Stunde gezahlt. In den anderen ostdeutschen Ländern waren das nur 20% 

Ein Drittel der 1.95 Millionen Erwerbstätigen in Sachsen arbeiten unter prekären Bedingungen (Teilzeit, Leiharbeit Arbeit auf Abruf…).

Die durchschnittliche Entlohnung liegt mit 3.515 € Brutto um ca. 900 € unter dem Durchschnitt aller deutscher Länder (4.400 €).

Sachsen ist das Land mit der höchsten Quote von Harz-IV-Aufstockern und der längsten Dauer an Erwerbslosigkeit.

Die Armutsgefährdungsquote lag 2015 in Sachsen bei den 18-25jährigen bei 39,8%. Zehn Jahre davor waren es noch 30,2%. Bundesweite beträgt der Wert 25,5%.

Das durchschnittliche Brutto-Geldvermögen liegt in Sachsen bei 38.800 €, in Gesamtdeutschland bei 53.700 €.

Nur 18% der sächsischen Unternehmen sind tariflich gebunden. Dieser Wert liegt unter dem Durchschnitt Ostdeutschlands. Der Anteil der Unternehmen mit Tarifbindung und Betriebsräten ist in Ostdeutschland seit 1998 von 34% auf 25% im Jahre 2013 gesunken (in Westdeutschland von 45% auf 36%).

Dieser ökonomische Hintergrund ist entscheidend für die seit 1989 zu beobachtende Abwanderungsquote aus Ostdeutschland. Bis 2017 hatten 1,7 Millionen Menschen den Osten verlassen. Die ostdeutschen Länder entwickeln sich zunehmend zu Ländern mit einer alten Bevölkerung mit Männerüberschuss. In Sachsen ist das am stärksten ausgeprägt im Erzgebirge, hier besonders  für Johann-Georgenstadt. In der einst durch den Bergbau geprägten Stadt ist heute jeder 2. Bürger Rentner. Der Rückgang der Jugendlichen von 34% (1989) auf heute 19% ist besonders dramatisch. Dieser regionale Alterungsprozess ist am stärksten für das Gebiet der Sächsischen Schweiz ausgeprägt. Hier wird für Sachsen  die höchste Alters- und geringste Jugendquote verzeichnet. So entsteht ein Teufelskreis aus Abwanderung und Alterung der Gesellschaft, verbunden mit einer Ausdünnung ländlicher Regionen (Lühmann, 2021).

Die Kreise Erzgebirge und Görlitz haben zudem nach einer neuen Studie der Hans-Böckler-Stiftung (2021) die geringsten Mindesteinkommen Deutschlands. 

Dieses zunehmende Überwiegen alter Männer in Sachsen findet einen deutlichen Ausdruck in der Einstellung zur Demokratie: Befragungen 2019 zeigen für Sachsen und Brandenburg die geringste Zustimmung zur Legitimität der Demokratie und der Zufriedenheit mit ihr in Deutschland. Für Sachsen zudem die geringste Identifikation mit dem eigenen Bundesland und Deutschland unter allen 16 Bundesländern (alle Zahlenangaben bei Thieme & Mannewitz, 2021).

Autonomie der Oberlausitz im Kurfürstentum Sachsen

Seit der Gründung des 6-Städte-Bundes 1346 hatten die Oberlausitzer Stände eine relative Autonomie im Königreich Böhmen. Ziel des Bundes war die Landfriedenswahrung, insbesondere gegen die in Nordböhmen ansässigen Raubritter, die immer wieder die reiche Oberlausitz überfielen. Diese relative Autonomie bestand 500 Jahre bis 1815. Eine drastische Machtbeschränkung erfuhren die Städte durch den Pönfall 1547. Die vorwiegend protestantischen Stände zögerten, sich im Schmalkaldischen Krieg an Seiten der Katholiken und des Kaisers gegen ihre Glaubensbrüder in den Kampf zu beteiligen. Schließlich beschlossen sie, genau zwei Monate für den Kaiser in den Krieg zu ziehen. Dieser Zeitrahmen lief unmittelbar vor der Schlacht bei Mühlberg/Elbe ab. Sie zogen ihre Truppen aus dem kaiserlichen Lager ab und kehrten in die Oberlausitz zurück. Die Habsburger erlebten das als Auflehnung und bestraften den Oberlausitzer Städtebund daraufhin. Der Verlust der Rechte der Gerichtsbarkeit der sechs Städte und Abgabe der Waffen waren für einen längeren Zeitraum die Folge. 

Im Dreißigjährigen Krieg  gingen nach den Bestimmungen des Prager Friedens 1635 die Lausitz an das Kurfürstentum Sachsen über. Ein Traditionsrezess regelte, dass die konfessionellen und rechtlichen Besonderheiten der Oberlausitz nicht angetastet werden durften. Die alte Ständeherrschaft wurde in der bisherigen Form anerkannt. So galt z.B.  für das Umland der Abtei St. Marienstern, das vor allem von katholischen Sorben besiedelt war. Über Jahrhunderte behielt die Äbtissin des Klosters das Visitationsrecht über die protestantischen Pastoren des Umfeldes, ohne dass besondere Klagen bekannt geworden wären. Ein starkes eigenständiges nationales Selbstbewusstsein prägt diese seit jeher katholisch dominierte Region nördlich von Bautzen. Bis zur neuen sächsischen Verfassung 1831 galt für die Oberlausitz ein reduzierter Steuersatz. Finanzverwaltung und Schulwesen behielten eine Eigenständigkeit.

Nach dem Sieg über Napoleon fiel der nördliche Teil der Lausitz an Preußen, der nordöstliche Teil an die Provinz Schlesien, das Kernland der Oberlausitz wurde vollständig nach Sachsen eingemeindet. 

In der Folge behielt die Oberlausitz einen ausgeprägten ständischen Konservatismus und starke Selbstbezogenheit, die bis heute nachwirkt, nicht zuletzt durch die staatlich anerkannte nationale Autonomie  der Sorben in der Lausitzer Region. (Blaschke, 1990). 

Das Verhältnis zwischen den katholischen Sorben und den deutschen Protestanten war lange Zeit spannungsgeladen. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde den Sorben ihre zugestandene nationale Sonderstellung entzogen und sie erlitten Repressalien. Als Reaktion folgte unmittelbar nach Kriegsende 1945 der Versuch zwischen Cottbus und der tschechoslowakischen Grenze im Süden eine eigene sorbische Republik auszurufen und die deutsche Bevölkerung auszusiedeln. Diese war sogar schon vom jugoslawischen Staatschef Tito anerkannt worden! Erst die sowjetische Besatzungsmacht bereitete diesem Versuch ein Ende. Die Geschichtsphase ist heute gut im sorbischen Museum in Bautzen auf der Ortenburg nachzuvollziehen. Bis heute sind nationale Auseinandersetzungen in der Bautzener Region nachzuweisen. Diese sind gegenwärtig durch Anti-Ausländer- und Anti-Corona-Demonstrationen überlagert.

Sachsens ausgeprägte Ausländerfeindlichkeit und konservativer Protestantismus

Feindseligkeit gegen Ausländer in Sachsen ist keine Besonderheit der Gegenwart, sondern hat lange Wurzeln, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen.

Als Ludwig XIV. 1685 das Edikt von Nantes aufhob, dass katholischen und protestantischen Christen eine gleiche Stellung in Frankreich sicherte, endete eine alte tolerante Religionspolitik. Über 200.000 reformierte Franzosen verließen lieber das Land, statt wie gefordert zum Katholizismus zu konvertieren. Fast ein Viertel dieser Menschen suchte Obdach im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Die meisten Hugenotten fanden in Brandenburg bereitwillige Aufnahme, dessen Fürsten seit 1613 dem reformierten Glauben anhingen.

Im Kurfürstentum Sachsen wehrten sich die Städte, Stände und die konservative sächsische Kirche energisch gegen die Ansiedlung der andersgläubigen Flüchtlinge. Nur in der toleranten Messestadt Leipzig und am kursfürstlichen Hof in Dresden konnten sich kleine reformierte Gemeinden ansiedeln. Der Kurfürst August der Starke hatte hochgesteckte Ziele, die er mit dem Versuch einer Ansiedlung verfolgte. Die in der Regel gut ausgebildeten Franzosen versprachen einen beträchtlichen Wirtschaftsaufschwung im Lande. Der Kurfürst versuchte, in Dresden, Meißen, Torgau, Oschatz und Eilenburg reformierte Kolonien zu gründen, scheiterte jedoch damit. Die sächsischen Konservativen in den Städten und Ständen und besonders die Orthodoxen in der lutherischen Kirche verhinderten diese Pläne. So wehrte sich der Stadtrat von Torgau 1708 nicht mit einer religiösen Begründung, sondern damit, dass durch die Ansiedlung von vierhundert Personen die Versorgungslage der Stadt zusammenbrechen würde. Zudem würden durch das „französische Bier“ die ortsansässigen Brauereien  mit dem deutschen Reinheitsgebot Verluste erleiden. Mit ähnlichen Argumenten scheiterte auch die Ansiedlung in anderen Städten. Die wenigen reformierten Ansiedler am Dresdner Hof und in der Messestadt Leipzig hatten zudem nur eingeschränkte Bürgerrechte (kein Immobilienerwerb, keine Handwerksausübung, nur Großhandel wurde erlaubt). Auch die kleine Dresdner Gemeinde durfte sich zunächst nur im Verborgenen versammeln und in den Wohnungen einen Hausgottesdienst abhalten. Trauungen durften in Sachsen nicht durchgeführt werden, die Toten mussten ohne Zeremonie auf den städtischen Friedhöfen beigesetzt werden. Erst 1764 erhielten die reformierten Christen die gleichen Rechte zugesprochen.

Ohne die konfessionelle Offenheit der sächsischen Landesherren wäre der Freistaat heute um ein wesentliches kulturelles Erbe ärmer. Die Maler Adrian Zingg und Anton Graff würden ebenso wenig wie der Baumeister Gottfried Semper zum heutigen Stolz der sächsischen Kultur zählen (Middell, 2007, Metasch o.J.).

Ähnlich erging es der Integration der aus Mähren ab 1722 in die Oberlausitz kommenden Böhmischen Brüder, die aus der böhmischen Reformbewegung nach dem Tode von Jans Hus entstanden waren. Von dem 22jährigen Nikolaus Graf von Zinzendorf erhielten sie die Erlaubnis, sich auf dem Gelände des Gutes seiner Mutter in Berthelsdorf anzusiedeln. Sie gründeten in den nachfolgenden Jahren im Ort Herrnhut ihre Brüdergemeine. Auch hier kam es zu beträchtlichen Spannungen mit der orthodoxen lutherischen Landeskirche, die in der Brüdergemeine eine zunehmende Bedrohung sah. Der pietistisch erzogene Zinzendorf selbst wurde fast 20 Jahre aus dem Kurfürstentum Sachsen verbannt. Nach dem Tode Zinzendorfs näherte sich jedoch die Brüdergemeine der lutherischen Kirche an und konnte sich seitdem bei Wahrung ihrer Eigenständigkeit behaupten.

Sachsen hatte in der Geschichte des späten Kaiserreichs Probleme mit der Liberalisierung und war „um 1900 der einzige deutsche Flächenstaat, in dem es zwischen 1871 und 1918 nicht zu einer fortschreitenden Liberalisierung, sondern zu einer reaktionären Rückbildung des Wahlrechts kam“ (Kroll, in Lühmann, 2021, S. 299). In der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus war ein radikaler völkischer Protestantismus und Antisemitismus  vor allem für die Hauptstadt Dresden auffallend. Zu erinnern ist schließlich auch daran, dass es in Dresden am 8. März 1933 zur ersten Bücherverbrennung in Deutschland nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam (Lühmann, 2021).

2017 lebten in Sachsen 185.737 Ausländer, das entsprach 4,6% der Bevölkerung. Damit ist der Ausländeranteil im Vergleich zum Bundesdurchschnitt mit 11,7% sehr gering. Sachsen belegt den vorletzten Platz im Ausländeranteil in Deutschland, knapp vor Thüringen auf dem letzten Platz. Diese Ausländer hatten 2017 ein durchschnittliches Lebensalter von 31,6 Jahren, waren also um 15 Jahre jünger als der Altersdurchschnitt von 46,7 Jahren der Sachsen.

Das in repräsentativen Befragungen ermittelte Ausmaß an Ausländerfeindlichkeit ist in Ostdeutschland deutlich erhöht. Unmittelbar nach der großen Einwanderung 2015 war die Anzahl der Angriffe auf Asylheime in Sachsen am größten. Inzwischen ist das Ausmaß an Ausländerfeindlichkeit in Deutschland gesunken, in Westdeutschland von 21% (2018) auf 13% (2020) und damit deutlich stärker als in Ostdeutschland, wo er von  etwa 30% auf 27% sank. In Sachsen ist ohne Frage in den ersten Aufbaujahren nach der Revolution 1989 das Auftreten deutlicher Anzeichen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit negiert worden. Vor allem der erste Ministerpräsident nach der Wende, Kurt Biedenkopf, hat den Sachsen immer wieder ihre Immunität gegen Rassismus bestätigt und das sächsische Nationalgefühl über die Maßen gestärkt, ohne dass jedoch eine starke Zivilgesellschaft aufgebaut worden wäre. Das hat bis zur Regierung von Ministerpräsident Tillich so angedauert. Erst die Koalitionsregierung unter dem Ministerpräsidenten Kretschmer steuert einen konsequenteren Kurs dagegen. So fielen die nationalistischen und rassistischen Reden von PEGIDA auf einen fruchtbaren Boden.

Von Interesse ist die Zusammensetzung der stabilen Kerngruppe derer, die sich regelmäßig zu den wöchentlichen Demonstrationen zusammenfanden. Zwei Studien wurden schon in der Anfangsphase der Bewegung durchgeführt (Vorländer, Herold & Schäller, 2015, Daphi et al., 2015). Die Daten sind mit großer Vorsicht zu behandeln, wie auch die Autoren feststellen. Die Antwortquote war extrem gering und zudem musste man mit bewussten Falschaussagen rechnen. Ca. 75% der Teilnehmer waren Männer im mittleren Lebensalter. 10. Klassen- und Hochschulabschluss dominierten. Ihr Arbeitseinkommen lag unter dem ostdeutschen Durchschnitt. 62,1% waren parteilos, sympathisierten jedoch zumeist mit der AfD. 32,9% hatten bei der letzten Bundestagswahl ihre Zweitstimme der AfD gegeben, 21% der CDU. Auf die Motivation der Teilnahme befragt, gaben sie zu einem hohen Prozentsatz Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Politik, speziell die Sorge um den Verlust der nationalen Identität und Überfremdung durch Ausländer an. Diese Sorge um Identitätsverlustwar mit 78,5%, wesentlich größer als damals im deutschen Landesdurchschnitt (27,5%). 69,8% lehnten das Staatssystem der Bundesrepublik in Gänze ab. Dass zwei Drittel der Befragten diese totale Staatsverdrossenheit angaben, ist ein bedrückender Befund. Inzwischen hat sich in Sachsen diese Staatsablehnung zu einem offen ausgetragenen Hass verstärkt. Bewusste Verletzungen von Versammlungsverboten, die von der Polizei toleriert werden und offene Bedrohungen einer sächsischen Ministerin und des Ministerpräsidenten stellen gegenwärtig die Spitze dieser erschreckenden Entwicklung dar (9.12.2021). In den PEGIDA-Untersuchungen wurde nicht nach der sozialen Position und der Einstellung der Teilnehmer zur DDR-Zeit gefragt, ebenso wenig nach dem Verlust der Arbeit durch die Arbeit der der Treuhand  in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung. Hypothetisch wird von mir angenommen, dass dieses Ausmaß an Staatsverdrossenheit starke Wurzeln im Leben der DDR hat. Große Teile der Bevölkerung hatten kein Vertrauen in den DDR-Staat und erwarteten von ihm ständig restriktive Anordnungen. Dazu kam die tiefe Enttäuschung der freudigen Erwartungen auf  die „blühenden Landschaften“ nach der friedlichen Revolution. Zudem sind die ländlichen Regionen im Rahmen der „Leuchtturmpolitik“ in den Jahren der Regierung Schröder zugunsten  der zentralen Städte in ihrer Entwicklung benachteiligt worden. 

Für viele Ostdeutsche – das ist nicht für Sachsen allein typisch – war der durchlebte Transformationsprozess ein tiefer existenzieller Einschnitt in ihr bisheriges Leben. Leider konnten diese Transformationserfahrungen in den Datenerhebungen nicht erfasst worden. 

Der Politikwissenschaftler W. Patzelt (2016) hat sich intensiv mit der „Tiefenstruktur“ von PEGIDA beschäftigt. Er sieht weniger Rassismus bei den PEGIDA- Anhängern, eher das Gefühl des Verlustes einer Beheimatung. Der Alltagsumgang mit Ausländern war in der DDR nicht möglich. Die Vertragsarbeiter aus Vietnam und Mosambique lebten sozial weitgehend isoliert unter sich. Die plötzlich nach der friedlichen Revolution auftauchenden Fremden vermittelten für viele das Gefühl, die „Heimat zu verlieren, ohne sie je zu verlassen“ (S. 243). Es ist vielfach untersucht, dass diese Abwehr von Ausländern dort am stärksten auftritt, wo diese am seltensten das Straßenbild bestimmen.

Weiterhin sieht er in der Bewegung vielfach das Gefühl von Neid und Verlust von Gerechtigkeit. Der plötzliche Übergang von einer weitgehend egalitären DDR-Gesellschaft hin zu einer Konkurrenzgesellschaft westlicher Prägung war verbunden mit dem erneuten Erleben politischer Machtlosigkeit nach einer sehr kurzen Phase revolutionärer Veränderungen

Das konservative Wahlverhalten der Sachsen

Der ausgeprägte sächsische Konservatismus spiegelte sich seit über 100 Jahren im Wahlverhalten der Sachsen wider. Der Siegeszug der NSDAP begann außerhalb Berlins in Sachsen. In der Reichstagswahl 1929 steigerte sich der Stimmenanteil der NSDAP um das Dreifache. Sachsen hatte eine der größten NSDAP-Anteile in Deutschland, besonders unter den Medizinern. Die SA-Verbände waren unter dem Ministerpräsidenten von Killinger bis zu deren Zerschlagung die stärksten in Deutschland.

Nach der friedlichen Revolution 1989 dominierte viele Jahre eine stark konservativ ausgerichtet CDU in Sachsen. Doch dann tauchte mit der Alternative für Deutschland (AfD) eine national-konservativ ausgerichtete Partei auf, die bei der Bundestagswahl 2017 in Sachsen mit 27,0 % der Zweitstimmen die stärkste Kraft wurde. Bei den Landtagswahlen 2019 erhielt sie sogar 27,5%, in Brandenburg (23,5%) und in Thüringen (23,4%). In der Ortschaft Dorfchemnitz im Erzgebirge erhielt die AfD bei der Bundestagswahl 2017 52,3 % der Erststimmen und 47,9% der Zweitstimmen. Seit dieser Zeit erhält die AfD in Sachsen in allen bundesweiten Umfragen den größten Zuspruch.

Bei den nächsten Landtagswahlen 2023 ist zu erwarten, dass sie die Mehrheit der Stimmen erhält und die CDU in den Kreistagen ablösen wird. 

Doch sollte man sich vor Pauschalisierungen hüten. Die sächsischen Regionen unterscheiden sich sehr in ihrer historisch gewachsenen Mentalität. „Leipzig steht für Liberalität, Pluralität, Weltoffenheit, Bürgersinn und Laissez-faire und bildet in Sachsen eine Ausnahme. … Dresden hingegen steht für Konservatismus, Tradition, Monarchie, Ordnung und höfisches Verhalten.“ (Richter, 2019, S. 66). Je weiter man nach Osten in die Oberlausitz vordringt, desto stärker ist politischer Konservatismus ausgeprägt.

Der Landtagsabgeordnete Frank Richter macht darauf aufmerksam, dass die Opfermentalität, „das von der Geschichte betrogen sein“ in Leipzig weniger ausgeprägt ist als in Dresden und Ostsachsen. Das könnte mit der immer schon vorhandenen Weltoffenheit der alten Messestadt Leipzig zusammen hängen. Jedoch ist auch das Ende des 2. Weltkrieges in Leipzig anders als in Ostsachsen verlaufen. Die Stadt wurde von amerikanischen Truppen befreit und sechs Wochen besetzt. Erst dann kam die Rote Armee als Besatzer, da war die Zeit traumatisierender Übergriffe in Folge der letzten barbarischen Kriegshandlungen bereits abgeklungen. Die Region östlich von Dresden, besonders um Bautzen herum, hatte darunter besonders zu leiden. Hier überwogen viele Jahre Opfernarrative das Täterbewusstsein.

Vergleicht man Ost- und Westdeutschland in den zurückliegenden Geschichtsepochen, so besteht ein bemerkenswerter zeitlicher Unterschied in den Diktaturerfahrungen und der damit verbundenen Staatsverdrossenheit. Für Ostdeutsche waren das bis 1989 56 Jahre Diktaturerleben, deutlich mehr als nur 12 Jahre für Westdeutsche. D.h. mehr als zwei Generationen der Ostdeutschen haben in kritischer Distanz zum Staat gelebt und haben ihr aufgezwungenes opportunistisches Verhalten mit starken Selbstwertzweifeln und existentieller Verunsicherung bezahlt!

Die Sachsen verlassen die Heimat – Suizidraten in Sachsen und Ausreisanträge in die BRD

Diese existenzielle Verunsicherung findet einen deutlichen Ausdruck in der immer schon auffälligen Suizidraten in Sachsen.

Bereits im 19. Jahrhundert fiel das Königreich Sachsen durch die höchsten Suizidraten unter 29 Regionen in Zentraleuropa auf (Durckheim, 1897). Das blieb auch so in der Zeit der Weimarer Republik und bis 1940. Auch ein Vergleich zwischen der DDR und der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt das gleiche Bild. Die Suizidraten waren in der DDR noch 1980 fast doppelt so hoch, besonders bei den Männern. Seitdem ist ein beträchtlicher Rückgang und eine Annäherung der Raten festzustellen, bei den Männern auf die Hälfte, bei den Frauen auf fast ein Viertel der Werte von 1980 (Wiesner, 2004). Ellen von der Driesch (2021) hat mit detektivischer Akribie die bezirksweise ungeordnet gesammelten Akten der Suizidfälle aufgearbeitet. Seit Mitte der 1970er Jahre waren Suizide als Vertrauliche Verschlusssache (VVS) eingeordnet und durften nicht mehr publiziert werden. Insgesamt wurden in der DDR von 1952 bis 1990 204.124 Suizide registriert. Das entspricht der Einwohnerzahl von Rostock! Suizide in der DDR lagen europaweit an der Spitze, und waren lange Zeit doppelt so hoch wie in der alten Bundesrepublik. Besonders hoch waren hier wiederum die altersstandardisierten Werte in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Gera und Dresden, Kernregionen des heutigen Bundeslandes Sachsen. Die standardisierten Suizidraten korrelierten positiv mit den Regionaldaten einer erhöhten Urbanisierung, erhöhter Erwerbstätigkeit von Frauen und verstärkter Mitgliedschaft in der Partei SED. Negativ korrelierte Suizid mit einer Religionszugehörigkeit.

Die Autorin führt diese Befunde in Übereinstimmung mit der soziologischen Lehrmeinung auf einen generell typischen Trend für Regionen mit besonders starken ökonomischen und sozialen Transformations- und Modernisierungsprozessen zurück. Eine erhöhte soziale Kontrolle, verstärkte Konfliktsituationen und staatliche Überwachung erhöhen in diesen Gebieten ein Bedrohungserleben und Resignation und führen in der Folge zu mehr Selbsttötungen. Damit könnten dann auch die hohen Raten im 19. Jahrhundert mit der starken Industrialisierung Sachsens zusammenhängen. Doch bleibt das eine unbeweisbare Hypothese. Noch heute (2019) liegen die Bundesländer Sachsen-Anhalt und Sachsen bei den Männern an der Spitze der Suizidraten in Deutschland. Bei den Frauen liegt Sachsen an vierter Stelle.

Zum Ausreiseverhalten der Südbezirke der ehemaligen DDR in die damalige BRD liegen mir keine verlässlichen Daten vor. Aus recherchierten Zahlenangaben  in einer Publikation von Meyer (2002) lässt sich für die Jahre 1986 und 1987 eine Schätzung für den Bezirk Dresden vornehmen. Danach entfielen von den 190.000 Ausreiseanträgen der gesamten DDR auf den Bezirk Dresden 30.000, auf den Bezirk Karl-Marx-Stadt 16.800 Anträge. Dresden stellte demnach 15,8% aller Anträge. Der Bevölkerungsanteil des Bezirkes Dresden an der DDR-Bevölkerung betrug damals 10,5%. Auf dieses Kernland des heutigen Freistaates Sachsen entfiel damit nicht nur der absolut größte Anteil der Ausreiseanträge. Auch bezogen auf die Bevölkerungsdichte entfiel auf den Bezirk Dresden, das „Tal der Ahnungslosen“, der größte Anteil aller Ausreiseanträge in der DDR kurz vor dem Ende des Staates.

Impfverhalten der Sachsen und Corona-Inzidenzen

Auch in der Impfbereitschaft liegt der Freistaat Sachsen an letzter Stelle der deutschen Länder mit 58,5% (Daten von 7.12.2021). Davor liegen Brandenburg, vor Thüringen und Sachsen/Anhalt. Reziprok dazu verhalten sich die 7-Tage-Inzidenzen der Coronainfizierten: Sachsen liegt an der Spitze mit 1082,1 vor Thüringen mit 1023,1. Der Bundesdurchschnitt beträgt 432.2. (Daten vom 7.12.2021). (Wie stark diese Werte sich jedoch zeitlich und geografisch verändern, zeigt die inverse Lage Mitte Januar 2022!)

Interessant ist jedoch der Zusammenhang zwischen Infektionshäufigkeit und AfD-Wählerstimmen. Erhoben und publiziert (2021) wurden die Daten für 401 deutsche Kreise und kreisfreie Städte vom Jenaer Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Kooperation mit der Universität Bielefeld und dem Helmholtz-Zentrum München. Demnach zeigt sich in den beiden Corona-Wellen des Jahres 2020 ein stärkerer Infektionsanstieg in den Kreisen, die einen hohen Anteil an AfD-Zweitstimmen bei der Bundestagswahl 2017 hatten. Das gilt sowohl für ost- wie auch für westdeutsche Kreise.  Mit keiner der anderen an der Bundestagswahl beteiligen Parteien gibt es einen solchen Zusammenhang. Der Zusammenhang bleibt stabil, auch wenn zahlreiche mögliche Kovariablen kontrolliert werden. Den Zusammenhang  interpretieren die Autoren als Zeichen für die größere Ablehnung staatlicher Autorität durch AfD-Wähler und der damit verbundenen Ablehnung von staatlichen Schutzmaßnahmen, was sich dann in  der  erhöhten Infektionsinzidenz zeigt.

Die Nibelungentreue der Sachsen im Krieg 

Sächsische Truppen haben seit Jahrhunderten auf der Seite der Verlierer gekämpft. Das immer mit großen Mut und Tapferkeit. So zum Beispiel das berühmte sächsische Grenadier-Bataillon „Aus dem Winkel“, das 1806 bei Jena den Rückzug sächsischer Truppen nach der Niederlage deckte.

Diese historische Haltung der Sachsen zu allen Anordnungen der Regierenden verstärkt. Der Ruf „Widerstand“ gegen alles und jedes, der auf den Straßen gegenwärtig ertönt, ist charakteristisch dafür.

Im Folgenden sollen Beispiele für derartige Situationen angeführt werden.

Hussitenkriege

Zum kaiserlichen Aufgebot des Deutschen Reiches im letzten Kreuzzug der Hussitenkriege in der Schlacht am 15. Dezember 1431 bei Domazlice (Taus) im Böhmerwald gehörten stattliche Truppenaufgebote aus dem Kurfürstentum Sachsen. Die Hussiten stellten sich unter ihrem Anführer Prokop dem Großen südlich von Taus dem aus Bayern unter dem Kardinal Cesarini heranrückenden kaiserlichem Heer. Ihre überlegene Strategie, die Feinde bis nahe an die Wagenburg heranrücken zu lassen und sie dann aus der Deckung der verketteten Wagen zu beschießen und gleichzeitig links und rechts die Kavallerie herausbrechen zu lassen, führte zur völligen Vernichtung des deutschen Ritterheeres. Die Truppen des Kurfürsten von Brandenburg flüchteten als erste vom Kampfplatz. Nur die sächsischen Truppen hielten in Treue zum Kommandanten Cesarini und ermöglichten ihm in ihrem Schutz die Flucht durch die böhmischen Wälder zurück nach Bayern. Zuvor war er gefangen genommen worden, konnte sich im Schutze der Sachsen aber als Fußsoldat verkleiden und fliehen. Die Stelle seiner Gefangennahme befindet sich im Dorf Kout na Sumava 9 km südlich von Taus. Im 19. Jahrhundert wurde zur Erinnerung an die Schlacht ein Denkmal in Form eines nachgebildeten Kardinalhutes errichtet.

Die Sachsen im „Zwetschgenkrieg“ 1778

Nach dem Desaster des Siebenjährigen Krieges standen die Sachsen wirklich einmal an der Seite des Siegers, zudem ohne Kampf.

Bereits zu Beginn des Siebenjährigen Krieges hatten sie durch die Preußen eine vernichtende Niederlage im Herbst 1757 um den Königstein und Lilienstein herum erlitten. Die Armee musste kapitulieren, während der König und Graf Brühl auf dem Königstein in der Klemme saßen. 

Nach der Kapitulation der sächsischen Armee wurden die sächsischen Offiziere gegen Ehrenwort entlassen, die Soldaten in die preußische Armee gezwungen. Bis zum November waren die übernommenen Soldaten von 12.900 auf 5.190 geschrumpft. Zudem waren 1.300 zum österreichischen Feind übergelaufen. Die weiteren Verluste waren so dramatisch, dass die preußische Besatzungsverwaltung im März 1757 Flugblätter verteilt, die Deserteuren und ihren Helfern die Todesstrafe durch Erhängen androhten (von Salisch, 2009).

21 Jahre später stand Sachsen fast einmalig auf Seiten der Sieger. Kaiser Joseph II. wollte sich 1778 in einem Erbstreit das Kurfürstentum Bayern in seine Habsburger Hausmacht einverleiben. Dies stieß jedoch auf entschiedene Ablehnung durch den preußischen König Friedrich II. Dieser fiel drauf in Nordböhmen ein. Es kam entlang der Oberelbe zwischen Hohenelbe und Jaromer zu einem monatelangen Stellungskrieg mit den Österreichern. Diese Situation musste im Interesse beider Seiten schließlich abgebrochen werden, da mangels Verpflegung die Soldaten  unreife Früchte (Zwetschgen) aßen, Durchfall bekamen und in Massen desertierten. Beide Seiten wahrten schließlich ihr Gesicht durch einen Friedensvertrag, der die Streitigkeiten beendete. In dem Vertrag verzichte Habsburg auf Bayern, lediglich die Gegend um Braunau kam zu Österreich. In diesem Krieg waren auch die Sachsen auf preußischer Seite beteiligt. Die Ironie der Geschichte will es, dass also der Staat Bayern in seinen heutigen Konturen durch die Unterstützung der Sachsen gerettet wurde!

Tiroler Freiheitskampf 1809 unter Andreas Hofer – Die Sachsenklemme

Im Jahre 1809 erhoben sich die Bergbauern des Tirol gegen die Gewaltherrschaft von Napoleon. Er ließ den Aufstand mit brutaler Gewalt niederschlagen und den gefangenen Andreas Hofer in Mantua hinrichten. Im französischen Truppenaufgebot des Marschalls Lefebvre befanden sich auch Kontingent-Truppen aus den Königreich Sachsen und aus Thüringen. Hofer gelangen schwere Schläge gegen die deutschen Truppen unter französischem Kommando in der Sachsenklemme, an der Pontlatzer Brücke und in der dritten Bergiselschlacht.

Am 4. und 5. August 1809 rückte Marschall Lefebvre mit 2.500 Rheinbundtruppen, hauptsächlich aus Sachsen und Thüringern bestehend, in Tirol nach Süden durch das Eisacktal. In der Nähe der 1832 errichteten Franzenfeste gerieten die Truppen in einem Engpass (Sachsenklemme) in einen von Hofer gelegten Hinterhalt. In der Klamm wurden die Truppen von oben mit Felsbrocken und Brandfackeln beworfen und vernichtend geschlagen. Der Marschall musste sich mit dem Rest der Truppen nach Sterzing zurückziehen. Das war wohl das südlichste Schlachtfeld in Europa, wo die Sachsen tapfer auf der Seite der Verlierer fochten.

Auf nach Russland

In aufgezwungener Dankbarkeit für die durch Napoleon 1806 erfolgte Königskrönung des sächsischen Kurfürsten, musste sich König Friedrich August I. mit 27.000 Mann im 600.000 Mann starkem Heer am Feldzug gegen Russland beteiligen. Die sächsischen Truppen waren zumeist im  im Operationsraum zwischen der polnischen Grenze und Minsk eingesetzt.. Tapfer deckten sie an der Beresina den Rückzug der französischen Elitetruppen. Fast am Ende des Rückzuges wurden sie bei Kalisch von den nachrückenden Russen überfallen und völlig aufgerieben. 16.000 Sachsen verloren in diesem größenwahnsinnigen Feldzug das Leben. So hatten von den Truppen im Jahre 1813 nur 11.000 überlebt. 

Als Napoleon nach seiner Flucht aus Frankreich mit neuen, blutjungen Truppen anrückte, blieb der ewig zaudernde sächsische König an seiner Seite, obwohl viele sächsisch Adlige die Fronten wechseln wollten, wie es der preußische General York mit der Konvention von Tauroggen im Januar 1813 – vorgemacht hatte. 

In Vasallentreue folgte der sächsische König jedoch Napoleon bei dessen erneuten Kriegsvorbereitungen und zog sogar mit ihm ins Zentrum der Stadt Leipzig, wo die entscheide Schlacht zwischen den verbündeten Truppen der Österreicher, Preußen, Russen und Schweden gegen Napoleon und die Rheinarmee-Truppen stattfand. Die Schlacht ging schließlich vernichtend für Napoleon verloren.

In dieser Schlacht wechselten am 18. Oktober 1813 auf dem linken Flügel unter dem General Reynier einige sächsische Regimenter zum Entsetzen der Franzosen die Front und gingen zum Feind über. Sie wollten gegen die Franzosen kämpfen, das wurde jedoch nicht gestattet und sie mussten eine Stunde hinter dem Kampffeld in einem Waldstück biwakieren. Der König jedoch verblieb in der Stadt am Rathausplatz, auch nachdem sich Napoleon höflich von ihm verabschiedet hatte und den Ausbruch Richtung Westen antrat. Der sächsische König wurde von den Siegern mit Verachtung behandelt, gefangen genommen und nach Schloss Königs-Wusterhausen bei Berlin gebracht, wo er mehrere Jahre in Gefangenschaft lebte. Die zornigen Preußen wollten ihn erschießen lassen, was jedoch durch eine britische Intervention verhindert wurde. Auf dem Wiener Kongress 1815 erlitt Sachsen einen dramatischen Gebietsverlust, vor allem an Preußen. 

Viele Soldaten der sächsischen Armee wurden in die preußische Armee eingegliedert. Sie sollten in der letzten Schlacht bei Waterloo gegen Napoleon kämpfen. Zuvor kam es wieder zu einem Zeichen unerschütterlicher Treue zum Landesherren. In Lüttich gliederte Marschall Blücher sächsische Truppen in die preußische Armee ein. Mehrere Soldaten, die aus den nördlichen Provinzen Sachsens stammten, die an Preußen gefallen waren, lehnten es ab, einen Eid auf den preußischen König zu schwören. Sie blieben in Treue bei ihrem Eid auf den sächsischen König. Wütend ließ Blücher sechs von ihnen erschießen.

Die Sachsen im Deutsch-Österreichischen Krieg 1866 

Auch in den innerdeutschen Auseinandersetzungen 1866 auf dem Wege zur Reichsgründung 1870 stand Sachsen in fester Waffentreue zum Verlierer der Auseinandersetzung, Österreich. Die sächsische Armee hatte sich unter Kronprinz Albert aus Sachsen nach Ostböhmen zurückgezogen. Hier fand im Sommer 1866 die Entscheidungsschlacht bei Königgrätz statt.

Am Beginn des Einmarsches der Preußen in Sachsen schafften tapfere sächsische Eisenbahner aus Dresden mehre Lokomotiven nach Eger in Westböhmen. Sie wussten, dass in diesem Krieg die Eisenbahnen ein entscheidendes strategisches Transportmittel der Preußen waren.

Sachsen musste sich gemeinsam mit Österreich einem demütigenden Friedensdiktat in Nikolsburg und Prag unterwerfen. Preußen sicherte sich durch diesen Sieg die Vormachtstellung in Deutschland. Sachsen kam mit einem blauen Auge davon dank der Fürsprache Frankreichs. Preußen wollte das Land am liebsten einverleiben. Dieses militärische Ziel kann man schon im politischen Testament von Friedrich II. nachlesen. Sachsen stand fortan treu und fest an preußischer Seite bis zum militärischen Niederlage Ende des Ersten Weltkrieges.

Fazit

Es wurden hier Mentalitätssplitter und sozio-ökonomische Daten aus mehreren Jahrhunderten sächsischer Geschichte zusammengetragen. Sie sind Beispiele sächsischer Widerständigkeit gegen staatliche Maßnahmen, Beispiele verletzten nationalen Stolzes, aber auch Beispiele von Standhaftigkeit in Kriegen. Es sind Fakten, die besonders ausgeprägt in Sachsen festzustellen sind und als einzelne Facetten Erklärungsansätze für das gegenwärtig zu beobachtende auffällige Reaktanzverhaltens von großen Teilen der sächsischen Bevölkerung liefern können. Momentan ist von Teilen der Bevölkerung eine direkte hasserfüllte Ablehnung des Staatsgefüges zu beobachten, die sich in wechselnden Symptomen über Jahre bereits entfaltet hatte (Euro-Ablehnung, Ausländerfeindlichkeit, „Corona-Diktatur“). Jedoch lässt sich daraus kein Gesamtbild als Erklärung für die Gegenwart ableiten. 

Auffallend ist jedenfalls die Spaltung der Gesellschaft in Menschen, die sich auf den Straßen laut „Widerstand“ brüllend bewegen und Menschen, die sich aus Furcht vor einer Corona-Infektion isoliert in ihre Wohnungen zurückziehen. Die amerikanische Soziologie hat dieses Verhalten als „cave syndrom“ bezeichnet.

Die Zusammenstellung ist auch nur als gedanklicher Hintergrund für eine kognitive und emotionale Annäherung an das sich aufschaukelnde Ablehnungsverhalten immer größerer Volksgruppen auf den Straßen des Freistaates in der Gegenwart zu verstehen. 

Zusammenfassend sollen nochmals die wesentlichen Punkte dieses Diskussionspapiers benannt werden:

  • Die ausgeprägte Austeritätspolitik der sächsischen Ökonomie führt zu prekären Lebensverhältnissen und geringem Vertrauen in die Demokratie bei großen Teilen der sächsischen Bürger. Die damit erst in jüngster Zeit zum Stehen kommende Abwanderung junger Menschen (vor allem junger qualifizierter Frauen), hat zunehmend das Erscheinungsbild einer Gesellschaft alter verbitterter Männer zur Folge. 

Die ablehnende Haltung zur Staatsmacht der DDR war in Sachsen am stärksten ausgeprägt. Der ehemalige Bezirk Dresden wies 1987 die höchste Quote an Ausreiseanträgen in der DDR auf.

Ein aus der DDR-Zeit tradiertes Misstrauen gegenüber jeglicher Staatsmacht, durch die Treuhand ausgelöste existenzielle Verlusterlebnisse und nichterfüllte Erwartungen an den erfolgreichen Aufbruch („blühende Landschaften“) haben bei großen Teilen der sächsischen Bevölkerung bis in die jüngste Gegenwart einen verfestigte negative Einstellung gegenüber stattlichem Handeln entstehen lassen.

  • Historisch entstandene regionale Autonomie, vor allem zu beobachten in der Oberlausitz, führt über historisch lange Perioden zu lokaler Verselbständigung und konservativ-abwehrendem Verhalten besonders gegenüber dem Zentralstaat. Das kann auch für das obere Erzgebirge angenommen werden mit seinen Erinnerungen an den einst stolzen und reichen Erzbergbau in dieser Region.
  • Beispiele für Ausländerfeindlichkeit und Distanz gegen Fremde sind in Sachsen seit dem 17. Jahrhundert nachweisbar. Die Pufferstellung zwischen Preußen und Böhmen/Habsburg ist mit vielen nationalen Kränkungen, Verlusten und verlorenen Kriegen verbunden, die sich im kulturellen Gedächtnis der Sachsen eingebrannt haben und in der Folge zu anhaltendem Misstrauen gegen die staatliche Obrigkeit führte.
  • Der Südosten Sachsens ist seit langer Zeit durch ausgesprochenen Konservatismus in den Einstellungen gegenüber dem Neuen und Fremden und auch im politischen Wahlverhalten gekennzeichnet. Diese konservative Einstellung wird zudem verstärkt durch die Abwanderung, dies in diesen Regionen eine Landschaft mit vorwiegend alten Männern entstehen lässt. Dieser konservative Sachsenstolz ist nach der friedlichen Revolution durch die jeweiligen Regierungen bis in die jüngst Gegenwart gefördert worden. Erst unter der Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Kretschmer wird dem gegengesteuert. 
  • Dieser Widerstand richtet sich je nach Konfliktlage gegen unterschiedliche Erscheinungen. War es vor Jahren vor allem die große Anzahl von Flüchtlingen, so ist es gegenwärtig das zum Teil widersprüchliche und hilflose Lernverhalten der Regierung im Umgang mit der Covid-19- Pandemie .
  • Schließlich hat sich im kulturellen Gedächtnis der sächsischen Regionen und lang an Preußen verlorener Territorien zum Teil sowohl eine trotzige Treue zum Sachsentum, aber auch ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber notwendigem gesamtstaatlichen Handeln verfestigt. Beides äußert sich gegenwärtig auf den sächsischen Straßen und Plätzen in einer unguten Mischung von individueller Kränkung und nationalem Überschießen.

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