Foto: Frank Berger

Am 23. April 1945, vor 78 Jahren, wurde das Kriegsgefangenenlager Zeithain durch Einheiten der Roten Armee befreit. Die Stiftung Sächsische Gedenkstätten, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und die Gemeinde Zeithain erinnerten im Ehrenhain an dieses Ereignis und gedenken der Opfer des Lagers.
Frank Richter hielt eine Ansprache.
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich empfinde es als eine große Ehre, vortreten und Ihnen hier und heute meine Gedanken vortragen zu dürfen. Noch mehr empfinde ich es als eine Last. Warum? Weil es diesmal so ganz anders ist als das letzte Mal. Im vergangenen Jahr konnte ich nicht hier sein.
Ich nahm das letzte Mal vor zwei Jahren an der Gedenkfeier zum Jahrestag der Befreiung des Kriegsgefangenenlagers Zeithain teil. Damals war Frieden in Europa. Jedenfalls fuhr ich damals hierher, ohne mir vorstellen zu können – oder: ohne mir vorstellen zu müssen -, dass das, woran hier erinnert wird, wiederkehrende und reale Gegenwart in Europa werden könnte.
Ich dachte und fühlte – ziemlich naiv und unreflektiert – dass das regelmäßige, würdevolle und institutionell verankerte Erinnern und Gedenken effektiv dazu beiträgt, dass die grausame Realität des Kriegsgefangenenlagers ein für allemal der Vergangenheit angehört, jedenfalls in Europa.
Ja, wenn ich noch tiefer in mich hineinhöre, dann vernehme ich; mein Erinnern und Gedenken war in manchen Jahren ritualisiert und geprägt von einer gewissen Normalität.
Heute ist das anders. Heute stehe ich hier. Heute stehen wir hier, und vergegenwärtigen, dass nicht weit von uns entfernt, in der Ukraine, täglich geschossen, zerstört, getötet und gestorben wird, dass Menschen ihrer Freiheit beraubt, gefangen, verschleppt und gefoltert werden, dass Kinder von ihren Eltern getrennt und deportiert werden.
Wir vergegenwärtigen, dass der Aggressor einem ganzen Volk das Selbstbestimmungsrecht abspricht, das Ziel verfolgt, einen souveränen Staat zu vernichten und den Zynismus aufbringt, seinen Krieg eine „militärische Spezialoperation“ zu nennen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielleicht ging es Ihnen in den letzten Wochen und Monaten so wie mir: es kamen Momente, in denen ich ganz grundsätzlich an der Lernfähigkeit der Menschheit zweifelte daran, dass die Bemühungen Frieden, Gerechtigkeit und Humanität zu erhalten und zu verteidigen überhaupt einen Sinn haben. Natürlich wissen wir – theoretisch – , dass wir in diesen Bemühungen niemals nachlassen dürfen. Aber dieses Wissen ist jetzt mit sehr starken, zuwiderlaufenden und mit emotional kaum zu ertragenden Realitäten konfrontiert.
Wir stehen hier – auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Zeithain – auf einem Stück Erde, unter dem mehrere tausend tote Menschen liegen. Wie viele genau es sind, vermag niemand zu sagen, wahrscheinlich wird man es niemals ermitteln können. Hier litten und starben, hier sind begraben Menschen aus vielen Ländern Europas, und wohl auch Menschen aus anderen Regionen dieser Erde. Hier litten und starben, ich nenne bewusst und zuerst die Herkunft der zahlenmäßig größten Opfergruppen: Menschen aus Rußland, aus der Ukraine und aus Belarus.
Es gehörte zur grausamen Realität des von Hitler und seinem Regime geführten Krieges – besonders des Vernichtungskrieges im Osten, dass der einzelne Mensch nicht zählte, ja, man muss sagen: dass der einzelne Mensch nichts zählte. Wieviele Menschen in dem von Deutschland begonnenen und zu verantwortenden Krieg zugrunde gegangen sind, kann nur annäherungsweise berechnet werden.
Eines kann und muss sehr genau gesagt werden: dass die Menschlichkeit – und Menschlichkeit ist immer auch Mitmenschlichkeit, das liegt in der Natur der Sache – zerstört werden sollte und an vielen Orten, auch hier in Zeithain zugrunde gerichtet wurde. Die vor einigen Jahren gefundenen und veröffentlichten Dokumente und Fotografien bestätigen dies.
Sicher: auch im Krieg, auch in den Konzentrationslagern, sicher auch hier im Kriegsgefangenenlager Zeithain, haben Menschen versucht, ihre Menschlichkeit zu bewahren, indem sie diese tief in sich bargen und behüteten und sicher hat es Menschen gegeben, die dem Zivilisationsbruch widerstanden, indem sie auch nach außen Zeichen der Mitmenschlichkeit setzten. Aber: das war unsäglich schwer und gefährlich. Und es konnte das Grauen nicht besiegen.
Viele sind verzweifelt. Viele wurden entmenschlicht – oder verhielten sich nicht mehr wie Menschen. Es ist unerlässlich, einen Unterschied zu benennen: Ihre Würde verloren nicht die Opfer. Es waren die Täter, die ihre Würde verloren, weil und indem sie die Würde ihrer Opfer mit Füßen traten. Es gehört für mich – und sicher nicht nur für mich – jedes Jahr zu den berührendsten Erfahrungen, dass Sie, die Angehörigen und Nachkommen der Opfer zum Gedenken nach Zeithain kommen und sich an diesem Ort in eine Reihe mit den Angehörigen des Volkes der Täter stellen. Danke.
Aber zurück zur Notwendigkeit des Erinnern und Gedenkens: Wir erinnern und gedenken, weil wir es den Opfern schulden. Wir schweigen und verneigen uns vor ihrem Schicksal und ihrem Leid. Wir erinnern und gedenken, weil das die Menschlichkeit – auch unsere eigene Menschlichkeit – ausmacht und bewahrt. Wir erinnern und gedenken, gestatten Sie mir, es einmal sehr zugespitzt zu formulieren, auch „im wohlverstandenen Eigeninteresse“.
Ich sehe, das die Vergangenheitsvergessenen und Vergangenheitsverdrängenden oft dieselben sind, die unsere Gegenwart und unsere Zukunft vergessen und verdrängen, diejenigen, die sich ausschließlich dem Augenschein hingeben oder nur an sich selber denken. Das bedeutet den Verfall unserer Kultur. Die Geistigkeit des Menschen, die ihn von anderen Lebewesen unterscheidet, gibt uns die Möglichkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedanklich zu versammeln, die Zusammenhänge und Hintergründe zu verstehen, den eigenen Platz im Großen und Ganzen zu erkennen, diese Erkenntnis zu verinnerlichen und ihr eine Antwort zu geben.
Wer sich dem Druck des Vordergründigen und Billigen widersetzt übernimmt Verantwortung, für das was war, was mit ihm ist und auch für das, was kommen wird. Natürlich muss mitgedacht und hinzugefügt werden, dass der einzelne Mensch nur über begrenzte Kräfte verfügt, die Reichweite seiner Verantwortung nicht ins Unendliche reicht und er sich nicht überschätzen sollte. Gleichermaßen gilt: Keiner sollte sich und seine Möglichkeiten unterschätzen.
Wie dankbar sind wir Deutschen dafür, dass es in der dunkelsten Zeit unserer Geschichte viele einzelne Menschen gab, die sich – so aussichtslos er auch erscheinen mochte -, den Nationalsozialisten entgegen stellten, Verfolgte versteckten oder Gepeinigten halfen? Sie retteten viel mehr als nur die eigene Ehre.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin Jahrgang 1960, in Meißen geboren und in Großenhain aufgewachsen. Zeithain lag im Radius der zahlreichen Fahrradtouren, die ich gemeinsam mit meinen Jugendfreunden unternahm. Das ehemalige Kriegsgefangenenlager Zeithain lag quasi vor meiner Haustür. Ich bin oft vorbei gefahren. Obwohl ich meine Großeltern, meine Eltern, die Verwandten und die Nachbarn als wahrlich anständige und vernünftige Menschen erlebt habe – und viele von ihnen habe ich sehr lieb gehabt -, ich kann mich nicht erinnern, dass mir auch nur ein einziger von ihnen irgendwann einmal etwas über das Kriegsgefangenenlager Zeithain erzählt hätte. Über die vielen schrecklichen Taten, die die Angehörigen der Roten Armee in den letzten Wochen des Krieges an den deutschen Zivilisten in Großenhain und in der Umgebung verübt haben, wurde viel und ausgiebig erzählt.
Ich feiere – wie wir alle – gerne Geburtstag. Es ist nun mal so, dass meiner auf den 20. April fällt. Spätestens als Jugendlicher bekam ich mit, dass in den Dörfern im Umland meiner Heimatstadt Großenhain am 20. April Geburtstagsfeiern stattfanden, inoffiziell und heimlich, wie vieles in der DDR inoffiziell und heimlich stattfand. Diese Feiern galten nicht mir; sie galten Adolf Hitler. Obwohl sich der Staat DDR offiziell als „antifaschistischer Staat“ definierte, und obwohl die Gesellschaft geübt und routiniert war im Deklarieren antifaschistischer Bekenntnisse, gab es das ausgeprägte Vergessen und Verdrängen, gab es die Ignoranz der eigenen Schuld, bestand eine niedrige Hemmschwelle, die untergründige Sympathie für das, was man mit der Zeit des Nationalsozialismus in Verbindung brachte, zu überschreiten.
Deshalb plädiere ich dafür,
– die Gefahr der Wiederkehr des undenkbar Erscheinenden niemals aus dem Auge zu verlieren,
– sich konsequent und konkret an die Seite der Opfer von Krieg und Gewalt zu stellen und ihren Hilferuf zu beantworten,
– dem Erinnern und Gedenken einen festen Platz im staatlichen und gesellschaftlichen Kalender zu sichern, dabei aber nie dem Augenschein zu trauen und anzunehmen, dass das, was sich offiziell und öffentlich darstellt, von den Menschen auch tatsächlich verinnerlicht wird,
– die Humanität, die unser friedliches Zusammenleben sichert, mit Fantasie und Beharrlichkeit neu zu beleben und allen politisch zu widerstehen, die Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit nationalistisch beschneiden und damit zerstören wollen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Zeithain, 23. April 2023






Fotos: Andreas Herrmann