zur Übersicht

Perspektivwechsel als Voraussetzung für Friedensfähigkeit – Das Verhältnis des Westens zu Russland

Foto: screenshot Image-Film Gut-Gödelitz

von Axel Schmidt-Gödelitz

Die Entspannungspolitik nach der Kuba-Krise

Nach der Kuba-Krise, die die beiden Weltmächte USA und Sowjetunion an den Rand eines neuerlichen Weltkrieges brachten, trat kurzfristig Vernunft ein: Beide Seiten erkannten, dass die Rüstungsanstrengungen zu einem „Gleichgewicht des Schreckens“ geführt hatten. 
Eine Phase der Entspannungspolitik trat ein, ein rotes Telefon zwischen den Präsidenten beider Weltmächte wurde installiert und zahlreiche Verträge sicherten diese Entspannungspolitik auf höchster Ebene ab. 

In der Bundesrepublik Deutschland wurde mit der neuen Bundesregierung Brandt-Scheel ebenfalls eine neue Ostpolitik unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ auf den Weg gebracht. Es war vor allem der außenpolitischer Berater Brandts, Egon Bahr, der das entsprechende Strategiepapier erarbeitete und schließlich in monatelangen Verhandlungen mit Moskau, dann mit Polen und schließlich mit der DDR umsetzte. In seinem engeren Beraterkreis wiederholte er immer wieder seinen Leitgedanken: Verhandlungen zwischen Staaten basieren auf Vertrauen. Und das bedeutet: Die Interessen des jeweiligen Partners, dessen emotionalen Lage – vor allem seine Ängste – und schließlich die Vorgeschichte des Landes in den Verhandlungen zu berücksichtigen. Nur auf dieser Basis ist ein tragfähiger Kompromiss möglich. 
Kurz und bündig: Wer dazu nicht fähig ist, ist nicht friedensfähig. 

In seinen Verhandlungen mit Moskau – von Washington mitgetragen – hat Bahr diese Erkenntnis in die Praxis umgesetzt. Ihm war klar, dass der Kreis von sowjetisch besetzten Satelliten-Staaten nicht nur imperialer Machtpolitik entsprang, sondern auch mit den Einkreisungsängsten der Russen zu tun hat. Hitler und Napoleon sind tief im kollektiven Gedächtnis der Russen verankert. Dass die mit den USA verbündeten und von ihr militärisch beschützte Bundesrepublik die bestehenden Grenzen Europas nunmehr erstmals anerkannte – mit dem Zusatz, dass eine Veränderung nur im beiderseitigen Einvernehmen möglich ist – war für die sowjetische Regierung ein wichtiger Durchbruch. Für die politische Rechte, vor allem auch die Verbände der zwölf Millionen nach dem Krieg aus dem Osten Vertriebenen, war die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze blanker Verrat. Hinzu kamen die Toten an der Berliner Mauer. Aus Sicht der Opposition verhandelte Bahr mit skrupellosen Verbrechern.

Die danach folgenden Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen, der DDR und schließlich das Viermächteabkommen über Berlin – waren allesamt wichtige Marksteine auf dem Weg zu einem insgesamt regulierten und friedlichen Nebeneinander, was schließlich den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebnete.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums. Hoffnungen auf ein neues Kapitel in der Geschichte Europas

Gorbatschow, seit 1985 Staatspräsident und Generalsekretär der UdSSR, leitete ein neues Kapitel in den internationalen Beziehungen ein. In dieser Zeit erkannten die beiden großen kommunistisch geführten Gesellschaften, die Sowjetunion und China, dass sie mit der Dynamik der marktradikal-kapitalistischen Staaten des Westens wirtschaftlich und damit auch rüstungspolitisch nicht mehr mithalten konnten. Während sich China für einen Mittelweg entschied – kapitalistische Marktwirtschaft und weiterhin strikte Kontrolle der Bevölkerung – entschied sich Gorbatschow für beides: Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung). Ob es eine Umgestaltung hin zum Kapitalismus oder aber zu einem anderen Sozialismus sein sollte – vermutlich war Letzteres gemeint. Das alles sollte auch anderen osteuropäischen Ländern erlaubt sein. Damit wurde der Zusammenbruch des seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg existierenden sowjetischen Machtblocks eingeleitet.

Was die einen als Zusammenbruch empfanden, war für Gorbatschow und weite Teile der Weltbevölkerung ein geschichtlicher Neuanfang. Die „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ kurz: KSZE-Konferenz von Paris, an der im November 1990 die Sowjetunion, 32 europäische Staaten, sowie die USA und Kanada teilnahmen, endete mit der Charta von Paris für ein neues Europa. Die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten erklärten die Spaltung Europas für beendet, verpflichteten sich zur Demokratie als einzige legitime Regierungsform und sicherten ihren Völkern die Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu. Mehr noch: Ein neues europäisches Sicherheitssystem sollten die NATO und den Warschauer Pakt ersetzen. Gorbatschow sprach von einem gemeinsamen europäischen Haus, in dem auch die Sowjetunion Wohnrecht erhalten sollte.
Es war das Ende des Kalten Krieges. 
Im Februar 1990 verhandelten der US-Außenminister James Baker, Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher in Moskau. Es ging um die Zustimmung der Sowjetunion zur Wiedervereinigung Deutschlands. Dabei ist nachweislich der Verzicht auf jegliche Ausdehnung der NATO nach Osten zugesagt worden. Im Westen wurde das immer wieder geleugnet, wobei jegliche Logik dafürspricht, dass die Russen in dieser Frage klare Zusagen verlangen mussten. 

Kaum eine andere Frage hat das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen in der Folge so belastet, wie die Osterweiterung der NATO.
Im Juli 1991 wurde der Warschauer Pakt, das Freundschafts- und Verteidigungsbündnis der Sowjetunion auf der Prager Burg von der Sowjetunion, Ungarn, Polen, Bulgarien, Rumänien und der Tschechoslowakei aufgelöst. Das siebte Gründungsmitglied, die DDR, war schon im September 1990 ausgetreten – wenige Tage vor der Vereinigung mit der Bundesrepublik. Von einer Auflösung der NATO und einem neuen, gemeinsamen europäischen Sicherheitssystem war nicht mehr die Rede. Die Sowjetunion zog überall ihre Besatzungstruppen ab – auch aus Deutschland.


Enttäuschungen und Demütigungen 

Während der Westen triumphierte und sich die USA als einzig verbliebene Weltmacht sah, zerbrach die Sowjetunion. Am 25. Dezember 1991 kündigte Staatspräsident Gorbatschow in einer kurzen Fernsehansprache seinen Rücktritt an und damit das Ende der Sowjetunion. Die ehemaligen Mitgliedsstaaten traten reihenweise aus. Der neue Präsident Russlands, Jelzin, versuchte fünf Tage später mit der Gründung einer „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) zu retten, was noch zu retten war.
Aber das war nur der Anfang. Die Erwartung der Bevölkerung, dass nach dem Ende des politisch und wirtschaftlich lähmenden planwirtschaftlichen Systems nunmehr bessere Zeiten anbrechen würden, verwandelte sich in sehr kurzer Zeit in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. 
Russland, wie auch ein Großteil seiner ehemaligen Partnerstaaten, stürzte in eine tiefe Wirtschaftskrise. Das gesamte System der sozialen Sicherung brach zusammen, einschließlich der Renten. Das Gesundheits- und Bildungssystem waren nur noch begrenzt funktionsfähig. Während die Armut rasant stieg – Ende der 90er Jahre lebten zwischen 30 und 40% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze – sank die durchschnittliche Lebenserwartung von 68 auf 65 Jahre.
Neoliberale, auf Privatisierung und Liberalisierung der Märkte pochende US-Wirtschaftsberater, wie auch die Habgier weniger Oligarchen, die sich der reichen Bodenschätze und großer Industrien bemächtigten, verschlimmerten die Lage.
Das vor wenigen Jahren noch unbesiegbare sowjetische Weltreich war ein Trümmerhaufen geworden. Immer mehr Menschen sehnten sich nach den alten Zeiten zurück.
Die Erfolge des russischen Ultranationalisten Wladimir Schirinowski bei den folgenden Wahlen verstärkten in Polen und anderen osteuropäischen Staaten die Bedrohungsängste vor Russland. Sie drängten auf Aufnahme in die NATO. Die Regierung Clinton spürte den Druck nicht nur von ihren aus Osteuropa stammenden Wählern. Auch die US-amerikanische Rüstungsindustrie verstärkte ihre Lobbyarbeit, weil sie auf milliardenschwere Geschäfte bei der Ausrüstung der Armeen künftiger Mitgliederstaaten hoffte.

Kurzum: 1996 gab Clinton Grünes Licht für die Osterweiterung der NATO. Im März 1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn aufgenommen. 

Der neue Präsident Russlands, Wladimir Putin, versuchte mit einer Charmeoffensive gegenzuhalten.
In seiner in deutscher Sprache gehaltenen Rede im Deutschen Bundestag am 25. September 2001 betonte er die geschichtlichen und kulturellen Gemeinsamkeiten beider Länder, und verwies auf die vielen politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit – auch gemeinsam in Europa. Die Bundestagsabgeordneten belohnten Putin am Ende mit stehendem Beifall. Danach geschah – nichts. 
Im Gegenteil: Im März 2004 wurden Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen Rumänien, die Slowakei und Slowenien in die NATO aufgenommen, eine weitere Demütigung durch den Westen, dessen Truppen nun bis unmittelbar an die russische Grenze im Baltikum vorrückten.

Auf der 43. Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 hatte Putin genau das in einer scharf formulierten Rede angeprangert. Abermals verwies er auf das gebrochene Versprechen des Westens, auf eine Osterweiterung der NATO zu verzichten.

Von den Vertretern des Westens war es geradezu fahrlässig, die Rede nicht ernst genommen zu haben.

Putins Gegenoffensive

Vor allem die USA und einige osteuropäische Verbündete hatten bereits den nächsten Schritt im Auge: Die Aufnahme der Ukraine in die NATO. Das machte der scheidende Präsident der USA, George W. Bush klar, als er 2008 auf dem Weg zur NATO-Konferenz in Bukarest, während einer Zwischenlandung in Kiew, dies offiziell verkündete: Es liegt im Interesse der USA, die Ukraine in die NATO aufzunehmen.
Auf der Konferenz selbst war diese Frage strittig. Während Polen und die drei baltischen Staaten Litauen, Estland und Lettland die USA unterstützten, lehnten die meisten westeuropäischen Länder den sofortigen Beitritt ab. Vor allem Deutschland mit Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier wiesen darauf hin, dass in Umfragen um die 70% der Ukrainer einen Beitritt ihres Landes in die NATO ablehnten. Man müsse auch auf die Einkreisungsängste der Russen Rücksicht nehmen. Der Westen sei im Übrigen mit der Abspaltung des Kosovo von Serbien schon bis an die äußerste Grenze dessen gegangen, was Moskau zuzumuten sei. Auch Georgien sei wegen seiner ungelösten Sezessionskonflikte in Abchasien und Südossetien kein Beitrittskandidat.
Dennoch konnte sich der US-Präsident im Schlusskommuniqué gesichtswahrend durchsetzen: Der Beitritt zur NATO sei entschieden, es sei eine Frage der Zeit.

Dem Westen hätte von diesem Augenblick klar sein müssen, dass damit gegenüber Russland eine rote Linie überschritten wurde.

Die Ukraine ist mit Russland politisch, wirtschaftlich und kulturell eng verbunden. Hinzu kommt eine große russischsprachige Minderheit. Seit der Unabhängigkeit sichern Pachtverträge der russischen Schwarzmeerflotte und ihrem Hauptstützpunkt Sewastopol ein Existenzrecht auf fremden Boden. Auch die Nutzung des Asowschen Meeres und das Durchfahrtsrecht auf der Straße von Kertsch ist in einem Kooperationsvertrag zwischen beiden Ländern geregelt.
Was wird sich ändern, sollte die Ukraine Mitglied der NATO werden?
Russland wollte nicht warten, das herauszufinden, sondern schaffte Fakten – zum Schutz der eigenen geostrategischen Position.

Anfang 2014 ermöglichte Russland durch militärische Intervention die Sezession der Krim durch Volksentscheid und anschließend den Eintritt er Krim-Republik in die Russische Föderation.

Dass die westliche Welt dies als eine Annexion, eine Verletzung des Völkerrechts und der UNO-Charte denunzierte, ist begreiflich. Dass Putin die Interessen seines Landes auf diese Weise durchsetzt, ist nach allem, was zuvor geschah, ebenso begreiflich. Die USA hätten in einem solchen Fall vermutlich nicht anders reagiert. Sie haben seit der Pariser Konferenz von 1990 konsequent ihre Interessen verfolgt. Das Versprechen, eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa aufzubauen, die sowohl Russland als auch die osteuropäischen Staaten einbezogen hätte, wurde nicht einmal angedacht. Die NATO wurde stattdessen ausgebaut und wider aller Zusicherungen systematisch bis an die russischen Grenzen vorgeschoben. 

Nichts begriffen, nichts gelernt

Als Putin verstanden hatte, dass ein Zuschauen und Nachgeben nichts bringt und er nicht nur die Krim annektierte, sondern mit dem Bürgerkrieg im Donbass dafür sorgte, dass die Ukraine schon aus diesem Grund nicht in die NATO aufgenommen werden kann, war er endgültig der Böse, der Gesetzlose, der Killer geworden. Richtig: Vieles von dem, was er seither in Gang gebracht hat, ist widerwärtig und völkerrechtswidrig. Aber es ist auch eine Re-Aktion auf die zahlreichen, die Interessen Russlands und seiner Bevölkerung verletzenden Entscheidungen des Westens. Wer darauf hinweist, ist ein Putin-Versteher. Dümmer kann man die ungemein erfolgreiche Friedenspolitik der Ära Brandt/Bahr nicht mehr interpretieren. Für sie war das Verstehen die Voraussetzung für Friedensfähigkeit. Der Perspektivwechsel, das sich auf die Seite des anderen zu stellen und von dort aus das Problemfeld zu analysieren – warum ist das bei der heutigen Generation von Politikerinnen und Politikern verloren gegangen? Warum sind sie so geschichtsvergessen? Muss man dafür die Erfahrung eines Krieges erlitten haben, um das zu begreifen?

Gut Gödelitz, April 2021