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Erfolgstrainer von Dynamo und Zeuge deutscher Geschichte – „Tagebuch für Walter Fritzsch“

Uwe Karte, Autor und Journalist, eröffnet mit seinem „Tagebuch für Walter Fritzsch“ einen weiten Blick in die jüngste deutsche Geschichte und einen tiefen in die Seelen- und Gemütslage der größten Trainerlegende von Dynamo Dresden. 

Frank Richter, SPD-Abgeordneter im Sächsischen Landtag, hat zwei Texte beigesteuert, in denen er eine kurze historisch-politische Einordnung versucht. 

Ein Videoclip mit Uwe Karte (Filmsequenzen: Archiv Uwe Karte, privat) und Frank Richter:

„Es ist die Wende für mich.“ (5. April 1950) 

Walter Fritzsch ist ein Zeuge des 20. Jahrhunderts. Er ist 19, als das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg anzettelt. Er verbringt die beste Zeit seiner Jugend als Soldat an der Ostfront. Fünfeinhalb Jahre später, am 8. Mai 1945, an dem Tag, an dem das „1000jährige Reich“ zusammenbricht, am Tag der Befreiung, der die Europäer aus einer ihrer größten Katastrophen erlöst, befindet er sich in Lunzenau, einer kleinen Stadt in Mittelsachsen. Seine Tagebuchaufzeichnung lautet: 

„Den ganzen Tag Schlachtflieger… Machten einen herrlichen Krieg. 11 Uhr sprach Oberst Pleitgen über die Lage. Nachmittags sickerte es durch von der Kapitulation. Schmidt, Jürgen versorgte uns ein paar Zivilklamotten. 18 Uhr bekamen wir die Nachricht, dass wir mit kämpfen aufhören und 24 Uhr die Waffen ablegen müssen.

Hat er begriffen, was um ihn herum geschieht? Wohl nicht. Noch am 1.Mai hatte er aufgeschrieben: „23.30 Uhr brachte unser Hauptmann uns die traurige Mitteilung, dass unser geliebter Führer den Heldentod fand.“ Aus seiner Feder fließt kein kritisches Wort über Adolf Hitler. Damit steht Walter Fritzsch exemplarisch für ungezählte Deutsche, die ihr Schicksal in die Hände der Mächtigen gegeben hatten. Die Würde des Führers schien ihnen unantastbar – bis zum bitteren Ende. 

Der Wahn, der die bedingungslose Gefolgschaft begründete, speiste sich unter anderem aus der Überzeugung von der technischen, militärischen und kulturellen Überlegenheit der Deutschen. In den Aufzeichnungen des blutjungen Walter fehlen zwar die Begriffe der nationalsozialistischen Rassenideologie. Dennoch spricht er immer nur abfällig vom „Russen“ und vom „Iwan“. Die Soldaten, die ihm an der Front gegenüber stehen, erscheinen ihm nicht als einzelne Menschen. Sie sind ein kollektiv zu verachtendes Ganzes. Sie unterschiedslos zu bekämpfen und zu töten, ist kein moralisches Problem. 

Walter Fritzsch gehörte zur 18. Panzerdivision. Diese beging, wie Militärhistoriker berichten, schwere Kriegsverbrechen. Es gibt keinen Beleg, dass ihm diese persönlich anzulasten wären. Gleichwohl ist unwahrscheinlich, dass er nichts davon mitbekommen hat. „Heute schlief ein tolles Weib, Liebling eines Bandenführers mit Herrn Schmidt.“  schreibt er unter dem Datum des 25. Mai 1943. Und am 27. Mai heißt es: „Halb sieben wecken. Neblig, halbe Stunde im Wald geritten. Sehr viele Minen und Sumpf. 55 Weiber gefangen und 3 Männer. Sonst das Wetter ist schön.“ 

Die Blindheit gegenüber den Kriegsverbrechen der Deutschen und das Entsetzen über die Kriegsverbrechen der Feinde gehen bei ihm – wie bei vielen – scheinbar problemlos zusammen. Im Mai 1945 notiert er: „… nicht zu glauben, was die Russen an unseren unschuldigen Menschen für einen Terror gemacht haben. Geraubt und geplündert und Frauen vergewaltigt.“ Viele Dokumente belegen, dass die Larmoyanz, ein vermeintlich betrogenes und zu Unrecht geschlagenes Volk zu sein, die Stimmungslage im Nachkriegsdeutschland bestimmt. Sie war geeignet, die Frage nach der eigenen Mitschuld zu verdrängen. 

Auch Walter Fritzsch fragt nicht nach dem Warum des Krieges. Er beschreibt ihn wie ein Naturereignis. Ein Nachsinnen darüber, ob er selbst Sand ins Getriebe der Zerstörungsmaschine hätte streuen sollen, statt eines ihrer Rädchen zu sein, findet sich im Tagebuch nicht. Das Kürzel „KZ“ erscheint zum ersten Mal am 22. Mai 1947. 

Der junge Mann  – er ist am Ende des Krieges 24 Jahre alt – ist bemerkenswert unpolitisch. Das Interesse an dem, was auf der großen Weltenbühne gespielt wird, erwacht spät und langsam. Die Vorstellung, dass das Geschick der Völker maßgeblich von mächtigen Führern, nicht aber von der eigenen Einmischung und von demokratischer Willensbildung gelenkt wird, bleibt in ihm lebendig. In Stalin und Churchill erkennt er die maßgeblichen Antipoden. Mit Entschiedenheit dokumentiert er allerdings eine politische Überzeugung: Nie wieder Krieg! Davon hat er „die Schnauze voll“ In dem Maße, in dem es der Führung der DDR gelingt, sich selbst und die Sowjetunion als Friedensgarant und die Westmächte (insbesondere die Amis und Westdeutschland) als Kriegstreiber darzustellen, gewinnt sie seine Akzeptanz. Darüber hinaus gehende politische Interessen äußert er selten. Seine Leidenschaft gilt dem Fußball. 

Unter dem Datum 30. März 1950 hält er fest: „Auf Arbeit eine große Überraschung, der neue Direktor ließ mich kommen (Filipenko, ein Russe). Er sagte mir, dass die Spieler während der Arbeit trainieren sollen. Am Sonnabend dürfen sie auch nicht arbeiten. Sondern nur trainieren…“ Walter Fritzsch nennt den Russen, der ihn angesprochen und seinen Nerv getroffen hat, beim Familiennamen. In den darauf folgenden Wochen wird ihm immer klarer, dass seine Zukunft vom Fußballspiel und vom Trainer-Amt bestimmt sein könnte. Am 5. April 1950 schreibt er in sein Tagebuch: „Es ist die Wende für mich.“