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Krieg in der Ukraine. Frieden in Deutschland?

Foto: shutterstock

Vor einem Jahr begann der Angriffskrieg gegen die Ukraine. Uns erreichen Informationen, die an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen sind. Es steht außer Frage, dass die Politik der NATO, der EU und auch Deutschlands gegenüber Russland Fehler gemacht hat. Es steht außer Frage, dass die Ukraine keine Demokratie ist, wie wir sie uns wünschen. Ebenso steht außer Frage, dass alle Fehler des Westens zusammen genommen nicht rechtfertigen, was Russland an Tod, Menschenrechtsverletzungen, Zerstörung und Elend anrichtet. Die Betroffenen sind zuerst die Menschen in der Ukraine. Darüber hinaus sind es die russischen Soldaten, die für Putins Ziele geopfert werden. In einer weiteren, nicht annähernd vergleichbaren Hinsicht sind auch wir betroffen. Auch für uns ist die Welt nicht mehr dieselbe wie vor dem 24. Februar 2022. Auch wir müssen uns dem Krieg und seinen Folgen gegenüber verhalten.

Aus der Fülle der drängenden Fragen möchte ich zwei herausgreifen.

Sie betreffen weniger die Politik, mehr den Zustand unserer Gesellschaft.

Welche Einstellung haben wir gegenüber Flüchtlingen? 

Alles spricht dafür, dass sie auf absehbare Zeit und in großer Zahl zu uns kommen werden. Solange die Welt existiert, werden Menschen durch Krieg, Dürre, Hunger und Zwangsherrschaft in die Flucht getrieben. Sie suchen Orte, an denen sie und ihre Kinder überleben können. Wer kann ihnen das verdenken?

Dass Nationalstaaten Souveränität auf ein definiertes Territorium beanspruchen, dieses wie ihr Eigentum behandeln, Flüchtlinge als illegal bezeichnen, Mauern und Stacheldrahtzäune errichten, ist menschheitsgeschichtlich relativ neu. Als Fortschritt kann ich das nicht bezeichnen. 

Sehr neu ist die Unterscheidung zwischen willkommenen und nicht willkommenen Flüchtlingen. Noch vor wenigen Monaten wurden Menschen aus Syrien an der polnischen Grenze zurückgeprügelt. Sie waren geflohen, weil ihre Heimat vom russischen Militär bekämpft wurde. Als der Aggressionskrieg Russlands begann, wurden Menschen aus der Ukraine mit offenen Armen empfangen. Sie waren geflohen, weil ihre Heimat vom russischen Militär bekämpft wurde. 

Die Unterscheidung betrifft nicht nur Syrer und Ukrainer. Sie wird begründet mit unterschiedlichen Rechtstiteln. Ist sie deshalb auch politisch und menschlich richtig? 

Kriege und Krisen verändern den Charakter der Menschen nicht. Dieser tritt nur deutlicher zutage. Diejenigen, die schon vor dem Krieg solidarisch mit Flüchtlingen, Armen, Alten, Obdachlosen usw. waren, sind es auch jetzt. Und diejenigen, die schon vor dem Krieg wenig übrig hatten für Empathie und Hilfsbereitschaft, verhalten sich jetzt genauso wie zuvor. Die Rede von der Zeitenwende trifft den Charakter unserer Gesellschaft. Sie ist nicht nur eine militärpolitische Korrektur. Sie ist eine humanitäre Anfrage. 

Wie friedlich ist unsere Gesellschaft? 

Die Jahre vor und nach der Öffnung der Berliner Mauer waren geprägt von einer intensiven Beschäftigung mit dem Wert der Freiheit. Dies war notwendig, weil die Freiheit durch staatliche Gewalt unterdrückt wurde. Aber schon die Ökumenische Versammlung in der DDR – sie tagte 1988 und 1989 – weitete den Blick auf die anderen Grundwerte und deren Zusammenhang. Unter dem Motto „Eine Hoffnung lernt gehen.“ ging es um Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung. Es ging um Freiheit und um menschenwürdige Ordnung. Diese Verhältnisbestimmung ist heute genauso aktuell wie damals. Frieden ist eben nicht allein die Freiheit von Krieg. Frieden steht nicht auf dem Papier. Frieden ist das Werk der Gerechtigkeit. Er entsteht durch das täglich neue Suchen nach dem Ausgleich der Interessen. Die Art, wie wir leben und wirtschaften, zerstört die Lebensgrundlagen der nachwachsenden Generation. Es wäre fatal, wenn wir wegen des Krieges gegen die Ukraine vergessen, Frieden zu machen mit unseren Kindern und Enkeln. 

Als ich mit Vertretern der „Letzten Generation“ sprach, nannten sie mir drei Merkmale der deutschen Gesellschaft. Sie sei refeudalisiert, sinnentleert und partiell idiotisch. 

Harte Worte! Aber in der Tat: Es gibt einen Geld- und Vermögensadel, der alles, was der Staat den Bürgern gleichermaßen zur Verfügung stellt, problemlos aus der privaten Portokasse finanzieren kann. Gleichzeitig gibt es einen hohen Prozentsatz an armen Menschen. Dieser ist in den Krisen der letzten Jahre angewachsen. 

Nach der Diskreditierung der Erzählung vom Fortschritt hinauf in die „heile Welt des Kommunismus“ und nach dem Glaubwürdigkeitsverlust des westlichen Narrativ vom „Wohlstand für alle durch Wachstum für immer“ fehlen unserer Gesellschaft verbindliche Ziele und Sinn. Übrig geblieben ist die „individuelle Selbstoptimierung“.  

Und „partiell idiotisch“? In der Antike waren Idioten all jene, die am Rande stehen blieben und immer nur dasselbe brüllten. Idioten sind zum Dialog weder willens noch in der Lage (oder beides). 

Es waren Jugendliche, die diese Analyse vortrugen. Wo es an ausgleichender Gerechtigkeit, Sinn und Dialog mangelt, steht es nicht gut um den Frieden. Die Gesellschaft zerfällt. Der Krieg in der Ukraine scheint weit weg. Er und andere Konflikte sind näher, als manche meinen. Die Gesellschaft steckt in einer Zeitenwende, die ihre moralische Kraft herausfordert. 

Es war meine alte (und geliebte) Großmutter, eine Frau, die Flucht und Vertreibung am eigenen Leib erfahren hatte und mir manchmal sagte: „Wenn es schwierig wird und Du nicht weißt, was Du machen sollst, dann musst Du wenigstens wissen, was Du nicht machen darfst. Das wird Dir helfen.“ Ich füge hinzu: Wir dürfen Flüchtlinge, die unseren Schutz brauchen, nicht abweisen. Wir dürfen die Spaltung zwischen Reichen und Armen nicht hinnehmen. Wir dürfen die nachwachsende Generation um ihre Zukunft nicht berauben. 

Frank Richter, MdL

24.2.2023