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Messiaen in Sachsen

Foto / Quelle: Rob Croes / Anefo, CC0, via Wikimedia Commons

Olivier Messiaen (*1908 +1992)

Einer der berühmtesten modernen französischen Komponisten und Organisten war in den 40ziger Jahren im Kriegsgefangenenlager STALAG 8 A in Görlitz interniert. Am 15.1.1941 wurde sein Quartett für das Ende der Zeit im Lager uraufgeführt. Seit der Wende pflegt man in der Gedenkstätte, die heute auf der polnischen Seite der Neiße liegt, die Erinnerung an ihn. Am 27.1.2021 wurde seine Musik im Sächsischen Landtag zu Gehör gebracht. Ein beeindruckendes Hörerlebnis! Hier einige Hintergrund-Informationen.

Olivier Messiaens „Quartett auf das Ende der Zeit“ ist Musik, „mit einer Wolke bekleidet“

Mit acht Jahren beginnt Olivier Messiaen autodidaktisch Klavier zu spielen, erhält bald darauf seinen ersten Klavierunterricht und wird ab 1919 am Pariser Conservatoire national supérieur de musique et de dance ausgebildet, das er 1930 mit mehreren Preisen und einem zusätzlichen Diplom beendet. Anschließend übernimmt er die Organistenstelle an der Kirche La Trinité in Paris.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wird auch Messiaen zum Militärdienst einberufen und gerät im Juni 1940 für neun Monate in deutsche Kriegsgefangenschaft. Im Stammlager Stalag VIII A in Görlitz-Moys vollendet er das „Quatuor pour la fin du temps“, eines der wichtigsten kammermusikalischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts. Die ungewöhnliche Instrumentierung ergab sich aus den im Lager verfügbaren Musikern, dem Klarinettisten Henri Akoka, dem Geiger Jean Le Boulaire und dem Cellisten Etienne Pasquier. Uraufgeführt wird das Werk am 15. Januar 1941 vor ca. 400 Kriegsgefangenen.

Von 1941 bis 1992 schuf Messiaen rund 40 Vokal-, Orchester-, Bühnen-, Klavier-, Orgelwerke und Kammermusikstücke. Er zählt heute zu den größten Komponisten des 20. Jahrhunderts und das „Quatuor pour la fin du temps“ ist eines der meist aufgeführten Stücke des vergangenen Jahrhunderts.

israeli.chamber.project Daniel Bard, Violin; Tibi Cziger, Clarinet; Michal Korman, Cello; Yael Kareth, Piano Live Performance at Elma Arts Center, Israel. March, 2017

Quatuor pour la fin du temps (1941) – Quartett auf das Ende der Zeit

  1. Liturgie de cristal – Kristall-Liturgie
  2. Vocalise, pour l`Ange qui annonce la fin du temps – Vokalise für den Engel, der das Ende der Welt verkündet
  3. Abîme des oiseaux – Abgrund der Vögel
  4. Intermede – Zwischenspiel
  5. Louange a l` éternité de Jésus – Lobpreis der Ewigkeit Jesu
  6. Danse de la fureur, pour les sept trompettes – Tanz des Zornes für die sieben Trompeten
  7. Fouillis a`arcs-en-ciel, pour l`Ange qui annonce la fin du temps – Gewirr von Regenbögen für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet
  8. Louange a l`immortalité de Jésus – Lobpreis der Unsterblichkeit Jesu

Vögel im Kopf

Olivier Messiaens „Quartett auf das Ende der Zeit“ ist Musik, „mit einer Wolke bekleidet“

Musik ist anders als andere Künste. Während Bildwerke eingehend betrachtet, Bücher wieder und wieder gelesen werden können und die darstellenden Künste zumindest dokumentarisch festzuhalten sind, bleibt Musik flüchtig. Selbst in den Aufnahmen. Kaum erklungen, schon verflogen. Schwirrt davon wie ein Vogel. Der Rest ist Gedächtnis. Die Kunst des Erinnerns.

Musik erfahren wir stets im Kopf. Dort mag sie nachhallen und einen Gedankenraum ausfüllen, einen Gedenkraum, der bis tief in die Herzgegend reicht. Die Schatzkammer des emotional Empfundenen ebenso wie des Unerhörten.

Denn Musik entsteht auch im Kopf. Wenngleich sich Komponisten die äußeren Orte ihrer Kreativität nicht immer frei auswählen können, mitunter werden die von den Zeitläufen sogar grausam erzwungen. So geschehen bei Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin de temps“ („Quartett auf das Ende der Zeit“), das der längst schon anerkannte Musiker der Moderne, der bereits seit 1931 als Organist an der Kirche La Trinité in Paris wirkte, unter unwürdigen Umständen als Kriegsgefangener in Nazi-Deutschland vollendet hatte. In einer tristen Barackenlandschaft am damaligen Stadtrand von Görlitz.

Doch der „Auftakt“ zu seinem Quartett schuf Messiaen bereits etwas eher. Als der aus Avignon stammende Musiker, der seit 1919 in Paris lebte, unmittelbar nach der deutschen Okkupation von Belgien, Holland, Luxemburg und Frankreich im Sommer 1940 in Kriegsgefangenschaft geriet, wurde seine Kompanie zunächst auf einem Feld in der Nähe von Nancy festgehalten. Hier traf Olivier Messiaen auf den Klarinettisten Henri Akoka vom Orchestre National de France und schrieb für ihn ein unter freiem Himmel einstudiertes Solostück, aus dem später der dritte Satz des berühmten Quartetts geworden ist.

Musik voller Farben, mit der sich der Komponist auf die biblische Legende der Johannes-Offenbarung bezog:

„Und ich sah einen starken Engel vom Himmel herabkommen,

der war mit einer Wolke bekleidet,

und ein Regenbogen auf seinem Haupt

und sein Antlitz wie die Sonne und seine Füße

wie Feuersäulen.“

Später berichtete Messiaen freilich auch von lebhaften Farbträumen aufgrund ständigen Hungers:

„Ich sah den Regenbogen des Engels und seltsame Wirbel von Farben.“

Die Uraufführung des Quartetts in der kriegskalten Theaterbaracke des Stalag VIII A am 15. Januar 1941 bestritt Olivier Messiaen am Klavier gemeinsam mit Jean Le Boulaire (Violine), Henri Akoka (Klarinette) und Etienne Pasquier (Violoncello) vor etwa 400 Zuhörern.

Neben Wachpersonal der Wehrmacht dürften es vor allem hungernde, frierende, verzweifelt angstvolle Menschen gewesen sein, die im schlesischen Niemandsland, fern ihrer Heimat, von dieser so sonderbaren Musik fasziniert gewesen sind – während anderswo in Deutschland moderne Musik zeitgleich als „entartet“ gebrandmarkt worden ist.

„Diese Musik ist wie Jazz!“, meinte mehr als ein halbes Jahrhundert später Albrecht Goetze und wollte fortan dort leben, wo diese Musik entstanden ist, für ihn „ein durch erlittenes Leid geheiligter Ort“. Auch 80 Jahre nach seiner Uraufführung übt dieses kammermusikalische Ausnahmewerk des 20. Jahrhunderts nach wie vor eine unvergleichliche Faszinationskraft sowohl auf Publikum als auch auf Interpreten aus. Die Gründe dürften weit mehr als nur die Summe aus dem Wissen um die besonderen Umstände der Entstehung und die prägende Religiosität Messiaens ausmachen. Es ist eine Art Zauber, der das „Quatuor“ prägt.

Schon die Besetzung war seinerzeit einzigartig und ist noch heute bemerkenswert: Klavier, Violine, Violoncello und Klarinette stellen eine außergewöhnliche Konstellation dar. Was damals notgedrungen dem Umstand der vorhandenen Instrumente beziehungsweise Musiker schuldig gewesen ist, sorgt nach wie vor für einen ganz unverwechselbaren Klangkosmos. Aber auch die Zahl der acht Sätze in diesem Quartett ist originär und wirft Fragen auf. Sieben Tage hat die Woche, ebenso die vermeintliche Schöpfungsgeschichte. Wieso beließ Messiaen, wenn er sich schon auf die Apokalypse bezog, es nicht bei sieben Sätzen? Der Legende nach „heiligt“ der siebente Tag die sechs Tage der Schöpfung („Am siebten Tag aber sollst du ruhen.“) – hier jedoch geht der Tag der Ruhe über in eine Aeternität unauslöschlichen Lichts. 

Klangkosmos in acht Sätzen

Ein kristallines Tageserwachen steht am Beginn des Quartetts. Mit dem Klavier werden die morgendlichen Nebel und Schatten weggetupft, Klarinette und Geige umspielen einander mit singenden Vogelstimmen von Amseln und Nachtigallen. Nur kurz währt dieser Moment eines natürlichen Friedens, dann hämmert die starke Engelsfigur mit aller Macht ins Geschehen und verkündet in ihrer Vocalise das Ende der Zeit.

Wofür steht dieses Bild, für apokalyptischen Abgesang? Mitnichten. Messiaen setzt den verbindenden Regenbogen und himmlische Harmonie ins Zentrum des zweiten Satzes. Beinahe schon ein Delirium, diese Abgehobenheit, die in einem furiosen Abwärtsstrahl der vier Instrumente ausufert, um in einem „Abgrund der Vögel“ sanft aufgefangen zu werden. Das Klarinettensolo ist ein trauervolles Klagen, in dem die Zeit mitunter stehenzubleiben scheint, dann aber von tirilierendem Vogelzwitschern wieder zerhackt wird, dem die Menschheit – namentlich Menschen in Gefangenschaft – nur voller sehnsüchtiger Hoffnung beiwohnen kann.

Mit einem kurzen Zwischenspiel verblüfft Messiaen erneut. Es klingt stellenweise orchestral, gibt den einzelnen Stimmen aber auch Raum zu solistischer Entfaltung und zitiert einmal mehr die Vogelstimmen aus dem ersten Satz. Die Amsel lässt grüßen – und flattert davon.

Auf dass der Mensch mit all seinem Bangen allein gelassen wird und glaubensvoll Rettung erhofft. Die Lobpreisung des fünften und längsten Quartettsatzes mutet wie ein Durchwandern eines endlosen Tales an, in dem eine glorreiche Schönheit liegt. Eine Schönheit im unentkömmlichen Schatten. „Am Anfang war das Wort“? – Es scheint der Sprachlosigkeit gewichen zu sein. Und Sprachlosigkeit macht hilflos, macht zornig.

Was zu einem abrupten Kontrast führt, in dem schon die ersten Takte des unisono beginnenden sechsten Satzes mitreißen zu einem Aufbegehren, zu einem schrillen Protest gegen das Ausgeliefertsein, das Ausweglose des Seins.

Trompetend wie in der vermeintlichen Endzeit perlen die Tonläufe kollektiv aufwärts, ersterben und setzen neu an, bis sie schließlich vor verschlossenem Tor stehen. Kein Tönen, kein Trommeln vermag hier noch eine Umkehr zu erreichen. Ersterbender Furor, ein vorweggenommenes Ende aller Zeit, aller Zeiten.

Doch noch einmal hält Messiaen inne, beschwört Regenbogen und Engel in seinem sich selbst zitierenden Feuerwerk, mit dem das eigentliche Ende der Zeit erst noch angekündigt werden soll.  

Da wechseln verinnerlichte Momente inneren Friedens mit ekstatischen Ausbrüchen, werden Klangfarben eines allumfassenden Spektrums gemischt und virtuos miteinander verrührt, in ein Finale geführt, das – noch – keines ist. Weit entfernt von einem Tag der Ruhe oder gar des sonntäglichen Friedens.  

Und dann, welche Überraschung, dieser so sangliche Schlusssatz, der ebenso als Lobgesang einer idealisierten Unsterblichkeit zu lesen ist wie als verzweifeltes Aufgeben, ein sprachloses Sich-Fügen ins Schicksal. Ein gewaltiges Violinsolo, zu dem das Klavier nur Wegmarken tastet, die das fast schon sphärische Schweben der gestrichenen Trauertöne in eine ewig klingende Weite führen, für die jedes menschliche Wort viel zu klein ist.

Michael Ernst: Begleitheft „Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus 27. Januar 2021“