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Corona als Fanal

Foto: Daniel Bahrmann

Peer Steinbrück hat trockenen Humor. Als er in einem Interview nach dem Sinn oder Unsinn von Hamsterkäufen gefragt wurde, verwies er auf einen bemerkenswerten Unterschied. Während die Deutschen Nudeln und Klopapier horteten, kauften die Franzosen Rotwein und Kondome. Typisch, so könnte man sagen. So nahe die europäischen Staaten beieinander liegen, so sehr liegen die Gewohnheiten der Völker auseinander. Was man schon in normalen Zeiten erkennen kann, tritt in Ausnahmensituationen, wie es die Ausbreitung des Corona-Virus und die angeordnete Quarantäne ohne Zweifel sind, umso deutlicher zu Tage. Ist dieser Unterschied etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Weder noch. Er ist etwas Bereicherndes, ein Unterschied, den wir akzeptieren sollten, auch wenn die nähere Betrachtung nicht immer zu unseren Gunsten ausfällt.

Vor einigen Tagen kursierte im Netz ein Video. Es zeigte einen italienischen DJ, der vom offenen Fenster aus ein ganzes Wohnquartier unterhielt. Seine Nachbarn freuten sich. Sie klatschten Beifall und sangen mit. Ein Sänger hingegen, der dasselbe in einem Berliner Kiez versuchte, erntete laute Buh- und Ruhe!-Rufe. Eine Frauenstimme drohte ihm an, die Polizei zu alarmieren. Nun, in der Zwischenzeit haben sich auch zahlreiche deutsche Wohnquartiere italienisiert. Die Menschen singen miteinander. Man kann auch optimistisch sein. 

Dass sich dennoch Pessimismus und Ratlosigkeit ausbreiten, ist nachvollziehbar. Den meisten europäischen Staaten ergeht es wie einem Kraftwerk. Sie erleben einen GAU; einen „größten anzunehmenden Unfall“. Die perfekt funktionierenden Gesellschaftsmaschinen werden abgebremst und runtergefahren. Die Motoren stottern. Viele Räder stehen still. Was zum Glück noch funktioniert, ist das Internet. Wahrscheinlich war die Kommunikation noch nie derart technisiert und digitalisiert wie in diesen Tagen. Woran man andererseits nicht häufig genug erinnern kann, ist die Situation in den Krankenhäusern und Pflegeheimen. Während ein großer Teil der Gesellschaft nach Hause geschickt wird und sich viele Adams und viele Evas so lange wie noch nie in einer Wohnung aufhalten müssen, schuftet ein anderer Teil der Gesellschaft – es handelt sich vor allem um Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger – „direkt am Menschen“ und leistet dabei Übermenschliches. Zu fragen wäre auch nach den ungezählten einsamen Adams und Evas. Sie sind in Deutschland in der Überzahl. Und was die ungezählten Kains mit den ungezählten Abels anstellen werden, ist nicht ausgemacht.

Die aktuell über Sachsen verhängten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen erzwingen eine seit Menschengedenken nicht vorgekommene gesellschaftliche Situation. Sie dienen dem Zweck, die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Virus-Infektion zu drosseln und das Gesundheitssystem vor einem Kollaps zu bewahren. Zugleich verursachen sie erhebliche ökonomischen Schäden. Ungezählte Unternehmen fürchten um ihre Existenz, Arbeitnehmer und Angestellte ebenso. Wertschöpfungs- und Lieferketten zerreißen. Märkte schließen. Geplante Einnahmen brechen weg. Rechnungen können nicht bezahlt werden. Schon jetzt befindet sich die Wirtschaft in einer Abwärtsspirale. Wie lange sich diese drehen und wann sie ihren Tiefpunkt erreicht haben wird, ist nicht abzusehen. 

Es heißt, dies sei die Stunde der Politik. Und in der Tat: unser Staat funktioniert. Auf kommunaler, landesweiter, nationaler und europäischer Ebene werden mit großer Geschwindigkeit Hilfs- und Rettungsmaßnahmen eingeleitet. Sie sollen die wirtschaftlichen Strukturen erhalten und vor dem Ausverkauf retten. Viel spricht dafür, dass dies gelingen wird. Zugleich ist es nicht nur die Stunde der Politik. Alles, was jetzt geschieht, wird mit einer großen kulturellen Anstrengung verbunden sein. Wir stecken in einer Krise, welche die gesamte Gesellschaft erfasst. Sie betrifft weit mehr als die Art, wie wir produzieren, handeln und konsumieren. Sie wird dazu führen, dass unsere charakterlichen und kulturellen Qualitäten sichtbar werden. Abstand halten und Zuwendung schenken, so lautet die paradoxe Forderung der Kanzlerin. Damit das gleichzeitig gelingt, ist Fantasie gefragt. Jede Idee ist willkommen, die geeignet ist, den geforderten körperlichen Abstand emotional und gedanklich auszuhalten und zu überbrücken! 

Frau Krause[1] ist eine über 70-jährige Dame. Sie bewirtschaftet ein kleines Stück Land in der Nachbarschaft. Im gestrigen Small Talk über den Gartenzaun sagte sie zu meiner Frau: „Wissen Sie, ich bin aus einer anderen Generation. Ich habe mir aber schon immer gedacht: Was soll eigentlich noch passieren, damit das endlich aufhört mit dieser ewigen Gier nach immer mehr und mit dieser dauernden Unzufriedenheit? Na ja, jetzt ‚hammers’.“ Frau Krause ist eine stille und gütige Frau. Sie empfindet stärker als sie erkennt. Sie hat sich in innerer Freiheit verabschiedet aus einer Gesellschaft, die sie gefangen sieht im Laufrad immer schneller werdender Aktivitäten. Sie hat eine andere Vorstellung von Lebensqualität. Die über 70-jährige Frau Krause denkt ähnlich wie die 17-jährige Greta Thunberg. Die alte Frau ist leise. Das junge Mädchen ist laut. Es ist eine Frage der politischen Kultur, ob die mitten im Leben und in der Verantwortung Stehenden die Lebenserfahrung von Frau Krause – sie steht für die abtretende Generation – und den lauten, gnadenlos und direkt ins Gesicht geschleuderten Protest von Greta Thunberg – sie steht für die nachwachsende Generation – ernst nehmen und einfließen lassen in ihre Entscheidungen. 

Es ist verräterisch, dass die Mehrheit unserer Gesellschaft bereit ist, die aktuellen Einschränkungen der bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte widerspruchslos hinzunehmen, während sie nicht im Geringsten bereit ist, die von den Greta Thunbergs dieses Landes geforderte Veränderung ihrer Lebensgewohnheiten zu akzeptieren oder auch nur darüber nachzudenken, ob durch Konsumreduktion nicht auch ein Gewinn an Lebensqualität erzielt werden könnte. 

Warum ist das so? Weil es aktuell um die eigene Haut geht, während es bei den freitäglichen Schülerdemos „nur“ um die Haut der kommenden Generation geht? Ich provoziere, weil ich befürchte, dass wir zur Tagesordnung übergehen werden, wenn der letzte Corona-Erkrankte gestorben und der letzte Corona-Überlebende immunisiert sein wird, weil ich befürchte, dass wir danach weitermachen werden wie bisher und dass wir es möglicherweise noch gedankenloser, hemmungsloser und rücksichtsloser tun werden. Wir werden die Erschütterung unserer Lebensgewohnheiten so schnell wie möglich vergessen. Wir werden die radikale Infragestellung der Funktionslogik unseres Produzierens, Handelns und Konsumierens so lange relativieren und interpretieren, bis wir das Problem nicht mehr verstehen. Wir werden Überstunden schrubben. Wir werden das gefährdete Wachstumsziel der deutschen Wirtschaft über die Ziellinie retten und danach zusammenbrechen. Wir werden endlich wieder weniger Zeit haben füreinander, für die Großeltern, Kinder und Enkel. Und wir werden keinen einzigen Gedanken auf die Frage verschwenden, wie wir unsere politische und ökonomische Ordnung befreien können aus der Zwangsjacke eines immerwährenden Wachstumswahns. 

Die Ausbreitung des Corona-Virus und die von ihr verursachte Infektions- und Atemwegserkrankung COVID-19 wird von Wissenschaftlern als Pandemie eingestuft. Dies bedeutet, dass der ganze Globus betroffen ist. Ist „Pandemie“ also nur ein anderes Wort für „Globalisierung“, wie es Pessimisten und Nationalisten behaupten? Natürlich nicht. Die Globalisierung ist in vielerlei Hinsicht ein Segen. Sie hat es möglich gemacht, dass wir die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft, die effizientesten Technologien, die besten Ideen vom Aufbau einer humanen Gesellschaft und die Prinzipien der Demokratie weltweit miteinander teilen können. Zugleich allerdings kann sie zum Fluch pervertieren, wenn sie als Chiffre für eine maß- und grenzenlose Ausbeutung unserer Lebensgrundlagen und als Alibi für den hemmungslosen Egoismus der Völker und Staaten missbraucht wird. So, wie sich jeder Einzelne in den Zeiten von Corona um eine Kultur des Abstands und der Zuwendung mühen muss, müsste die Menschheit eine Kultur des Respekts, der Selbstbeschränkung und der Solidarität entwickeln. Corona ist ein Fanal. Wenn wir es jetzt nicht begreifen, wann dann?


[1] Name ist geändert. 

Frank Richter, MdL
Kulturpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag 

23. März 2020 Text als PDF

Corona als Fanal