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„Viele arbeiten am Limit“

Herr Richter, wie geht es Ihnen in der Corona-Zeit? Was tun Sie gerade? 

Mir persönlich geht es gesundheitlich gut. Meine Frau und ich leiden darunter, dass wir unsere Eltern nicht besuchen können. Aber vor allem liegen mir die Gedanken, an die existenziellen Nöte, in die viele Menschen derzeit geraten, auf der Seele. Ich versuche zu helfen, wo ich es mit meinen bescheidenen Mitteln kann. 

Manche sagen ja, sie schauen dem Gras beim Wachsen zu und machen dabei erstaunliche Entdeckungen. Geht es Ihnen manchmal auch so? 

Ja. Die vom Corona-Virus ausgelöste Krise hat auch meine Aufmerksamkeit auf Dinge gelenkt, die ich lange übersehen oder überhört habe. Ich arbeite nun oft im Homeoffice; es fehlt an körperlichen Bewegung und ich kann nachts manchmal schlecht schlafen – etwas, was ich bisher nicht kannte. Schon mehrfach habe ich morgens gegen 5 Uhr einer Nachtigall zugehört, die ihr Lied vor meinem Schlafzimmerfenster sang. 

Wen trifft die Corona-Krise am härtesten? Die Ärmeren, die Reichen oder die Mittelschicht? 

Diese Krise hat viele Seiten. Sie verändert das Zusammenleben. Infektion, Erkrankung oder in wenigen Fällen sogar das Sterben – nun, das kann im Prinzip alle gleich betreffen. Aber schon bei der Frage, wie man die Krise wirtschaftlich, finanziell und psychisch erlebt und übersteht, fangen die Unterschiede an. Viele stürzt sie in existenzielle Nöte. Andere haben so viel Polster, dass sie sich keine großen Sorgen machen müssen. 

Wenn Corona überwunden ist, wie groß wird die – vor allem dann wirtschaftliche –Krise noch werden? 

Schon jetzt werden die wirtschaftlichen Folgen der aktuellen Krise verglichen mit der Weltfinanzkrise von 2009, der ab 2010 um sich greifenden Krise der Europäischen Währungsunion und mit großen Naturkatastrophen. Diese Vergleiche machen deutlich, dass es durchaus politische Möglichkeiten zum Gegensteuern gibt. Es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen. Auch ist es keineswegs so, dass es in Krisen nur wirtschaftliche Verlierer gibt. Ich vermute, dass sich viele Wirtschaftskreisläufe verstärkt auf die Regionen konzentrieren werden, was kein Nachteil sein muss, und sich andere weiter globalisieren werden. Dafür spricht schon die zunehmende Digitalisierung vieler Prozesse, die keine Ländergrenzen kennt. Ich finde, dass der Begriff der „Glokalisierung“, den ich zum ersten Mal bei Daniel Dettling gelesen habe, in die richtige Richtung weist. 

Das Leben in Quarantäne, in erzwungenem Homeoffice gemeinsam mit anstrengenden Schulkindern, ist für viele Familien nicht einfach. Welche Lehren lassen sich daraus ziehen? 

Da ich keine eigenen Kinder habe, sollte ich mich bei dieser Frage zurückhalten. Ich finde allerdings unmöglich, dass viele Schulkinder mit elektronisch übermittelten Aufgaben regelrecht überschwemmt werden. Viele Familien – gerade kinderreiche – besitzen doch nicht mehrere PCs oder Laptops und haben auch nicht das Geld, wöchentlich mehrere Druckerpatronen zu kaufen. In Zeiten, wo viele Eltern unter psychischem Druck stehen, weil sie nicht wissen, wie es beruflich weitergeht, sollte sich die Schule großzügig und nachsichtig verhalten. Lernen findet übrigens nicht nur in der Schule und nicht nur nach Lehrplänen statt. Ich glaube, die ganze Gesellschaft lernt zur Zeit etwas sehr Wichtiges: dass wir Menschen nicht alles planen können, dass wir einander brauchen und wie schön es sein kann, Zeit füreinander zu haben. 

Viele haben jetzt das Gefühl, die Gesellschaft rückt in der gemeinsamen Not wieder stärker zusammen. Wie sehen Sie das? 

Es gibt viele, die eine Zwangspause einlegen müssen. Es gibt viele, die plötzlich viel Zeit haben, auch miteinander, auf engstem Raum. Das dürfte nicht ganz leicht sein. Es gibt viele andere, die arbeiten am psychischen und physischen Leistungslimit, zum Beispiel in den Pflegeheimen, Arztpraxen und Krankenhäusern. Und es gibt ungezählte, deren Einsamkeit sich zurzeit noch verschärft. Die Lage ist sehr vielfältig. „Die“ Gesellschaft gibt es nicht. 

Es ist jetzt wenig Hate Speech von der AfD u.a. zu hören, aber auch deren größte Gegner von links sind ziemlich ruhig geworden. Ist das Virus stärker als der ideologische Streit im Land? 

Ja. Das Virus hat das Koordinatensystem der politischen Auseinandersetzung grundlegend verändert. Die oppositionelle Linksfraktion im Sächsischen Landtag verhält sich ausgesprochen verantwortlich. 

Wie gefährlich ist die Einschränkung der demokratischen Freiheiten im Land? 

Die Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte ist gravierend. Sie werden allerdings von der übergroßen Mehrheit akzeptiert. Weil die von der Regierung erlassenen Verfügungen zeitlich befristet sind und die parlamentarische Kontrolle funktioniert, sehe ich keine Gefahr. Grund zur Vorsicht besteht allerdings. Wie schnell eine Demokratie ausgehebelt werden kann, sehen wir derzeit in Ungarn. Die Inanspruchnahme von persönlichen Daten zum aktuellen Aufenthalt darf nur mit Einwilligung der Betroffenen geschehen. 

Von den Landtagsabgeordneten, auch von Ihnen, hört man jetzt wenig. Woran liegt das? 

Vieles, von dem was ein Abgeordneter tut, braucht und verdient nicht immer die große Öffentlichkeit. Ich persönlich halte an den Öffnungszeiten des Bürgerbüros in Meißen fest. Es kommen zwar kaum Bürger; dafür umso mehr schriftliche oder telefonische Anfragen. Meine Arbeit im Petitionsausschuss des Landtags geht weiter. Als kulturpolitischer Sprecher beschäftige ich mich derzeit vor allem mit den Notlagen, in die Künstler und Kulturschaffende wegen der Corona-Krise geraten sind. 

Im Grunde hört man nur noch die pragmatischen Politiker der Exekutive mit den Virologen im Schlepptau. Ist das gut so? 

Es ist gut, richtig und logisch, dass die Arbeit der Exekutive derzeit im Vordergrund steht. Ich möchte jetzt nicht tauschen mit einem Minister oder einem Behördenleiter. Wer genau hinsieht, kann erkennen, dass wir in Europa, Deutschland und Sachsen nicht die schlechtesten Politiker haben. Was nicht heißt, dass es nicht auch Fehlentwicklungen gab. Dass sich Politiker von Fachleuten beraten lassen, ist ebenfalls richtig und gut. Wir haben zusehen müssen, wohin es führt, wenn ein Präsident meint, mehr von einem Virus zu verstehen als die Gesundheitsämter. 

Machen die für den 20. September geplanten Meißner Landratswahlen Sinn? 

Sie machen nicht nur Sinn; sie sind unverzichtbar und notwendig für unsere Demokratie. Die Entscheidung, ob sie am 20. September durchgeführt werden können – und wenn ja wie –, oder ob sie verschoben werden müssen, muss jetzt noch nicht fallen. 

Was werden Sie nach Corona anders machen als bisher? 

Ich glaube, ich werde mir mehr Zeit nehmen für meine Frau und meine Familie. 

Das Interview führte Ulf Mallek.